Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Ärgerliche vom Stand- punkt eines Zuschauers aus war, daß Sobel so lange brauchte, um herauszufinden, was alle anderen instinktiv zu wissen schienen: Finney hatte Angst vor dem eigenen Schatten und zog sofort den Schwanz ein, wenn man die Stimme hob. Er war ein schmächtiger nervöser Mann, der sein Kinn vollsabberte, wenn er sich aufregte, und sich mit zitternden Fingern das stark geölte Haar raufte mit der Folge, daß seine Finger, wo immer sie hinlangten, Haaröl- flecken hinterließen, wie eine Spur seiner Persönlichkeit: auf seiner Kleidung, auf Bleistiften, auf dem Telefon und auf den Tasten seiner Schreibmaschine. Vermutlich war er nur deswegen Chef vom Dienst, weil sich niemand sonst den Schikanen Kramms ausliefern wollte: Ihre Redak- tionskonferenzen begannen immer damit, daß Kramm hinter seiner Trennwand »Finney! Finney!« schrie und Fin- ney aufsprang wie ein Eichhörnchen und zu ihm hastete. Dann war das unerbittliche Dröhnen von Kramms Forde rungen zu vernehmen und das Stammeln und Stottern von Finneys Erklärungen, und sie endeten damit, daß Kramm mit der Faust auf seinen Schreibtisch schlug. »Nein, Finney. Nein, nein, nein. Was ist los mit dir? Soll ich dir ein Bild malen? Na gut, na gut, raus hier, ich mach's selbst.« Zuerst wunderten wir uns, warum Fin- ney sich das gefallen ließ – niemand konnte einen Job so nötig haben –, aber die Antwort fand sich in der Tatsache, daß der Arbeiterführer nur drei Rubriken mit Angabe des Verfassernamens hatte: einen von mehreren Zeitungen übernommenen Artikel über Sport, den wir von einem Zeitungssyndikat erhielten, eine schwerfällige Kolumne mit dem Titel »ARBEIT HEUTE von Julius Kramm« auf der Seite gegenüber den Kommentaren und einen zwei- spaltigen Kasten auf der letzten Seite mit der Überschrift:
BROADWAY EXKLUSIV
von Wes Finney
In der oberen linken Ecke des Kastens befand sich so- gar ein winziges Foto von ihm mit angeklatschtem Haar und einem zuversichtlichen, die Zähne entblößenden Lächeln. Im Text schaffte er es, hier und da einen Bezug zur Arbeiterschaft herzustellen – ein Absatz über die Schauspieler- oder Bühnenarbeitergewerkschaft zum Bei- spiel –, aber meistens schrieb er direkt, auf die Art der zwei oder drei echten Broadway-und-Nachtclub-Kolum- nisten. »Schon von der neuen Nachtigall im Copa ge- hört?« fragte er die Gewerkschaftsführer; dann nannte er ihren Namen mit einer pfiffigen Randbemerkung über ihre Oberweite und ihre Taille und einem volkstümeln- den Kommentar zu dem Bundesstaat, in dem »sie zu Hause ist«, und er schloß gern folgendermaßen: »Die ganze Stadt spricht über sie, und sie zieht die Leute in Scharen an. Ihr Urteil, dem unser Ressort voll und ganz zustimmt, lautet: Die Lady hat Klasse.« Kein Leser wäre auf die Idee gekommen, daß Wes Finneys Schuhe drin- gend zum Schuster mußten, daß er keine Freikarten bekam und nie ausging, außer um sich manchmal einen Film anzusehen oder in einem Automatenrestaurant ein Leberwurstsandwich zu essen. Er schrieb die Kolumne in seiner Freizeit und wurde extra dafür bezahlt – wie ich hörte, waren es fünfzig Dollar im Monat. Es war dem- nach eine beide Seiten zufriedenstellende Vereinbarung: Für diese kleine Summe hielt Kramm seinen Prügelkna- ben in absoluter Knechtschaft; für diese kleine Qual konnte Finney Zeitungsausschnitte in ein Album kleben – das verseuchte Umfeld des Arbeiterführers landete im Papierkorb seines möblierten Zimmers – und sich mit Träumen von ultimativer Freiheit in den Schlaf raunen.
Wie auch immer, das war der Mann, der Sobel dazu
brachte, sich für die Grammatik seiner Artikel zu ent- schuldigen, und es war traurig, es mit anzusehen. Selbst- verständlich konnte es nicht ewig so weitergehen, und eines Tages hörte es auf.
Finney hatte Sobel zu sich gerufen, um ihm den gespal- tenen Infinitiv zu erklären, und Sobel legte die Stirn in Falten vor Anstrengung, ihm zu folgen. Keiner von bei- den bemerkte, daß Kramm ein paar Schritte entfernt in der Tür zu seinem Büro stand, zuhörte und das feuchte Ende seiner Zigarre betrachtete, als ob es abscheulich schmeckte.
»Finney«, sagte er. »Wenn du Englischlehrer sein willst, dann such dir einen Job in einer Highschool.«
Erschrocken steckte sich Finney einen Bleistift hinters Ohr und vergaß dabei, daß dort bereits ein anderer Bleistift steckte, und beide Stifte fielen zu Boden. »Also, ich ...«, sagte er. »Ich dachte nur –«
»Finney, das
Weitere Kostenlose Bücher