Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
dämmernden Hof hin- unterblicken. »Was ist los, Walt?«
Er wandte sich mit einem geheuchelten Lächeln zu ihr um. »Nichts ist los«, sagte er mit der Echokammerstim- me, und die Filmkamera begann erneut zu surren. Zuerst hielt sie aus der Nähe auf sein angespanntes Gesicht, dann schwenkte sie zu ihr, um ihre Bewegungen zu be- obachten, als sie unsicher neben dem Beistelltisch stand.
»Also«, sagte sie. »Ich werde noch eine Zigarette rau-
chen, und dann muß ich das Abendessen auf den Tisch bringen.« Sie setzte sich wieder – diesmal lehnte sie sich weder zurück noch lächelte sie, denn sie befand sich in ihrer geschäftigen Das-Abendessen-auf-den-Tisch-brin- gen-Stimmung. »Hast du Feuer, Walt?«
»Klar.« Und er ging zu ihr, tastete in seiner Tasche, als wollte er etwas hervorholen, was er ihr schon den ganzen Tag über hatte geben wollen.
»O Gott«, sagte sie. »Schau dir diese Streichhölzer an. Was ist denn mit denen passiert?«
»Mit denen?« Er starrte auf das zerfetzte, verdrehte Streichholzbriefchen, als wäre es ein belastendes Beweis- stück. »Ich muß es zerrissen haben«, sagte er. »Nervöse Angewohnheit.«
»Danke«, sagte sie und nahm das Feuer aus seinen zit- ternden Fingern entgegen, und dann sah sie ihn aus gro- ßen todernsten Augen an. »Walt, es ist doch irgend etwas los, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Warum sollte etwas los –«
»Sag mir die Wahrheit. Ist es die Arbeit? Ist es ... wovor
du letzte Woche Angst hattest? Ist heute etwas passiert, woraus du schließt, daß sie dich ... Hat Crowell etwas gesagt? Erzähl's mir.« Die schwachen Linien in ihrem Ge- sicht schienen tiefer geworden zu sein. Sie wirkte streng und souverän und auf einmal viel älter, war nicht einmal mehr besonders hübsch – eine Frau, die es gewohnt war, mit Notfällen fertigzuwerden, bereit, die Verantwortung zu übernehmen.
Er ging langsam zu einem Sessel auf der anderen Seite des Zimmers, und die Haltung seines Rückens sprach beredt von der bevorstehenden Niederlage. Am Rand des Teppichs blieb er stehen und schien zu erstarren, ein ver- wundeter Mann, der sich an sich selbst festhielt; dann drehte er sich um und sah sie mit der Andeutung eines melancholischen Lächelns an.
»Also, Liebling ...«, setzte er an. Er hob die rechte Hand und berührte einen Knopf auf halber Höhe der Knopflei- ste seines Hemds, als wollte er ihn öffnen, und dann ließ er sich mit einem großen Seufzer rückwärts in den Sessel fallen, ein Bein ausgestreckt auf dem Teppich, das andere angezogen. Es war das Würdevollste, was er an diesem Tag getan hatte. »Sie haben mich gefeuert«, sagte er.
Der mit Haien kämpft
Niemand hatte großen Respekt vor dem Arbeiterführer. Nicht einmal Finkel und Kramm, seine Besitzer, die zwei sauertöpfischen Schwager, die ihn sich ausgedacht hat- ten und es irgendwie zuwege brachten, Jahr für Jahr Profit daraus zu ziehen – auch sie konnten kaum stolz darauf sein. Das zumindest vermutete ich, so widerwillig wie sie sich durchs Büro schleppten und die gallegrünen Trenn- wände mit Hieben und Schreien zum Zittern brachten, nach den Druckfahnen griffen und sie zerrissen, Bleistift- spitzen abbrachen, nasse Zigarrenstummel auf den Boden warfen und verächtlich den Telefonhörer auf die Gabel knallten. Der Arbeiterführer war alles, was sie als Lebens- werk aufweisen konnten, und sie schienen ihn zu hassen. Man konnte es ihnen nicht verübeln: Das Ding war ein Ungeheuer. Vom Format her war es ein dickes, alle zwei Wochen erscheinendes, schlecht gedrucktes Boulevard- blatt, das einem leicht aus den Händen glitt und nur schwer wieder in der richtigen Reihenfolge zusammen- zusetzen war; von der inhaltlichen Ausrichtung nannte es sich »Eine unabhängige Zeitung, dem Geist der Ge- werkschaftsbewegung verpflichtet«; aber tatsächlich war es so etwas wie ein Branchenblatt für Gewerkschaftsfunk- tionäre, die es mit Gewerkschaftsgeldern abonnierten und gewillt sein mußten, den geringen Beistand, den es ihnen gewährte, zu ertragen, statt ihn zu wollen oder zu brau- chen. Die Berichterstattung des Arbeiterführers über natio- nale Ereignisse »aus dem Blickwinkel der Arbeiterschaft« war zuverlässig schal, meist konfus und häufig unklar aufgrund von Druckfehlern; die meisten der dicht gesetz- ten Spalten waren gefüllt mit schmeichelhaften Berichten über das Treiben von Gewerkschaften, deren Führer zu den Abonnenten gehörten, oft unter Ausschluß wesentlich
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