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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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bedeutender Nachrichten über Gewerkschaften, deren Führer nicht dazugehörten. Und in jeder Ausgabe fanden sich zahllose einfältige Anzeigen, die im Namen diverser kleiner Industrieunternehmen zur »Harmonie« aufriefen, Firmen, die Finkel und Kramm hatten überreden oder so weit einschüchtern können, daß sie Anzeigen schalte- ten – ein Kompromiß, der einer richtigen Gewerkschafts- zeitung sicherlich Fesseln angelegt hätte, der jedoch den Stil des Arbeiterführers bezeichnenderweise nicht zu ver- krampfen schien.
     Das Redaktionspersonal wechselte schnell und häufig. Wann immer jemand ging, inserierte der Arbeiterführer in der »Hilfe gesucht«-Rubrik der Times und bot ein »be- scheidenes Gehalt entsprechend der Berufserfahrung«. Daraufhin versammelte sich eine nicht unerhebliche Men- schenmenge auf dem Gehsteig vor dem Büro des Arbei- terführers, ein schäbiges Ladenbüro am unteren Rand des Bekleidungsdistrikts, und Kramm, der Chefredakteur (Finkel war der Verleger), ließ sie alle eine halbe Stunde warten, bevor er einen Stapel Bewerbungsformulare er- griff, die Manschetten herunterzog und mit ernster Miene die Tür Öffnete – ich glaube, er genoß die Gelegenheit, den Geschäftsmann zu spielen.
     »Okay, lassen Sie sich Zeit«, sagte er, als sie herein- drängten und gegen die hölzerne Balustrade drückten, die die Büros im Inneren abschirmte. »Lassen Sie sich Zeit, meine Herren.« Dann hob er die Hand und sagte: »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?« und begann, die Arbeit zu erklären. Die Hälfte der Bewerber ging, sobald er über die Gehaltsstruktur sprach, und die mei- sten, die blieben, waren kaum Konkurrenz für jemanden, der nüchtern, anständig und in der Lage war, einen eng- lischen Satz zu konstruieren.
     So waren wir alle angeheuert worden, die sechs oder acht von uns, die in jenem Winter unter dem kränklich fluoreszierenden Licht des Arbeiterführers die Stirn in Fal- ten legten, und die meisten von uns machten kein Ge- heimnis aus unserem Wunsch nach etwas Besserem. Ich fing dort an, nachdem ich ein paar Wochen zuvor meine Stelle bei einer Tageszeitung verloren hatte, und blieb nur, bis ich im nächsten Frühjahr von der großen Foto- zeitschrift gerettet wurde, bei der ich noch immer ange- stellt bin. Die anderen hatten andere Erklärungen, über die sie wie ich lange diskutierten: Der Arbeiterführer war ein hervorragender Ort für schrille und redundante Ge- schichten vom großen Pech.
     Leon Sobel kam einen Monat nach mir, und bereits in dem Augenblick, als Kramm ihn in die Redaktion führte, wußten wir, daß er anders war. Er stand zwischen den unordentlichen Schreibtischen mit der Miene eines Man- nes, der neues Gelände überblickte, das es zu erobern galt, und als Kramm uns vorstellte (und dabei die Hälfte unserer Namen nicht wußte), schüttelte er uns auf thea- tralisch feierliche Weise die Hand. Er war ungefähr Mitte Dreißig, älter als die meisten von uns, ein sehr kleiner, angespannter Mann mit schwarzem Haar, das auf sei- nem Kopf zu explodieren schien, und einem humorlosen schmallippigen Gesicht, das mit Aknenarben übersät war. Wenn er sprach, bewegten sich stets seine Augenbrauen, und sein Bück, der nicht so sehr durchdringend war, als daß er es sein wollte, blieb unverwandt auf die Augen des Zuhörers gerichtet.
     Das erste, was ich über ihn erfuhr, war, daß er noch nie in einem Büro gearbeitet hatte: Er war zeit seines Erwach- senenlebens Metallarbeiter gewesen. Zudem war er nicht wie der Rest von uns aus Not zum Arbeiterführer gegan- gen, sondern, wie er sich ausdrückte, aus Prinzip. Dafür hatte er die Stelle in einer Fabrik aufgegeben, die ihm nahezu doppelt so viel Geld eingebracht hatte.
     »Was ist tos, glaubst du mir nicht?« fragte er, nachdem er es mir erzählt hatte.
     »Nein, das nicht«, sagte ich. »Es ist nur, daß ich ...«
     »Vielleicht hältst du mich für verrückt«, sagte er und verzerrte sein Gesicht zu einem gerissenen Lächeln.
     Ich versuchte zu widersprechen, aber er wollte es nicht hören. »Mach dir keine Sorgen, McCabe. Ich bin schon oft verrückt genannt worden. Das macht mir nichts aus. Meine Frau sagt immer: ›Leon, damit mußt du rechnen.‹ Sie sagt: ›Die Leute verstehen einen Mann nicht, der mehr vom Leben will als nur Geld.‹ Und sie hat recht! Sie hat recht!«
     »Nein«, sagte ich. »Warte mal. Ich...«
     »Die Leute glauben, daß man eins von zwei Dingen sein muß: Entweder ist man ein

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