Elf Leben
Pechvogel, dem man mit gutem Willen und einer gewissen bösen Vorahnung begegnet, wie einem Wettbewerbsteilnehmer, den man anfeuert, obwohl man voll und ganz damit rechnet, dass er verliert.
Einmal im Bett hatte Matilda gesagt, ihr habe in den fünfzehn Jahren platonischer Freundschaft kaum etwas mehr Lust gemacht, Xavier die Kleider vom Leib zu reißen, als seine – sie fand kein besseres Wort – schiere Hilfsbereitschaft.
»Wie, es macht dich an, dass ich nett zu anderen Leuten bin?«
»Dass du ganz insgesamt ein netter Mensch bist. Ist das so komisch?«
»Und alles andere, womit ich versucht habe, dich zu beeindrucken – das hätte ich mir sparen können? Das ganze Geld für Klamotten, und dass ich mir Pretty Woman angetan habe? Ich hätte also bloß alten Omas über die Straße helfen müssen, bis du mit mir schläfst?«
»Bitte lass mir meine Illusionen.« Matilda lachte.
Xavier sieht aus dem Fenster in den freudlosen frühen Abend. Die Autos, immer noch mit Schnee überzogen, sehen aus wie Tiere auf einer reifbedeckten Weide. Ein Paar mittleren Alters, beide in roten Regenmänteln, die aussehen, als wären sie für das Wetter zu dünn, klammern sich Halt suchend aneinander und eiern Stückchen für Stückchen über den glatten Gehweg. Xavier fragt sich, ob eine von den Frauen beim Speed-Dating seine angeblich so attraktive Freundlichkeit bemerken wird, ob er sie eigentlich überhaupt noch besitzt. Er wünschte, er hätte Murray nicht zugesagt für heute Abend, und überlegt, ob es nicht vielleicht doch sein könnte, dass das Speed-Dating ausfällt.
Aber wie er sich schon die ganze Zeit dachte, hat die widrige Witterung der Veranstaltung nichts anhaben können. Sechs oder sieben Leute haben es nicht geschafft, dafür sind eine Handvoll andere gekommen, dank der spärlichen Zahl von anderen Attraktionen, die London an diesem verschneiten Abend zu bieten hat: Kinos und Restaurants haben wegen Personalmangel geschlossen. Die Veranstaltung findet in einem Nachtclub mit noblen Samtsofas und Schummerbeleuchtung statt. Da, wo normalerweise die Tanzfläche ist, sind im Karree Tische aufgestellt.
Murray ist seinen buschigen Locken mit einer Extraladung Haargel zu Leibe gerückt. Er trägt ein knallrotes Hemd, und unter den Achseln breiten sich bereits dunkelrote Flecke aus. Als er Xavier sieht, wirkt er erleichtert. Die einsamen Herzen stehen verlegen in der Bar herum, bis der Moderator, ein gutaussehender Schwarzer im Anzug, in ein kabelloses Mikro spricht.
»Okay, Leute. Jeder von euch hat eine Nummer bekommen.« Murray hat die 4 und Xavier die 8, nicht die 11, die er gern gehabt hätte. »Gleich werde ich euch bitten, an den Tisch mit eurer Nummer zu gehen. Dann setzt sich euer erstes Date zu euch. Jedes Mal, wenn ihr die Sirene hört« – es ertönt etwas, das wie eine aus dem Auto gerissene Hupe klingt – »gehen die Herren der Schöpfung einen Tisch weiter. Am Ende des Abends schreibt ihr die Nummern von allen auf, die ihr gern wiedersehen würdet, und wir verkuppeln euch dann. Seid ihr bereit?«
Falls der Moderator für seine abgenudelte Leier einen Beifallssturm erwartet hat, wird er enttäuscht: Die Teilnehmer schlurfen murmelnd zu ihren Tischen.
»Viel Glück«, sagt Xavier zu Murray und klopft ihm auf den speckigen Rücken.
In den nächsten anderthalb Stunden drehen sie auf Befehl der Hupe eine Runde durch den Raum; manchmal ist sie eine Unterbrechung des Drei-Minuten-Dates, öfter jedoch eine willkommene Erlösung. Auf jedes Hupen folgt ein kollektives Stühleschrappen, die Masse setzt sich unsicher in Bewegung und lässt sich am nächsten Tisch nieder. Das Ganze wirkt wie eine Abfolge vorgeschriebener Transaktionen, eher wie eine choreographierte Übung als ein Austausch von Gefühlen. Aber vielleicht finden die Leute ja gerade das reizvoll, überlegt Xavier.
4: Okay, also, was hast du so für … Hobbys und Interessen und so?
Xavier: Ich spiele Scrabble.
4: Scrabble?
Xavier: Ja, Turnier-Scrabble. Als Wettbewerb.
4: Es gibt Scrabble-Turniere?
Xavier: Ja, das ist –
4: Geht es bei Scrabble nicht einfach nur darum, wer die längsten Wörter kennt?
Xavier: Nicht unbedingt. Es gibt ziemlich viele Taktiken. Man kann zum Beispiel –
4: So genau will ich es nun auch wieder nicht wissen.
Xavier: Ach so.
9: Und, was machst du beruflich?
Xavier: Ich, äh, ich bin Filmkritiker.
9: Cool. Auf was für Filme stehst du denn so?
Xavier: Äh …
9: Hast du die Harry-Potter-Filme
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