Elf Leben
gesehen?
Xavier: Nein.
9: Musst du dir unbedingt ansehen. Aber sag mal, du klingst irgendwie, als wärst du Australier, wie ich.
Xavier: Ja, ich komme aus Melbourne. Aber ich lebe jetzt hier.
9: Wieso bist du weggegangen? Gefällt’s dir hier besser?
Xavier: Das ist eine lange Geschichte. Es ist was passiert, und dann konnte ich nicht mehr dort bleiben.
9: Krass. Aber sag mal, findest du nicht auch irgendwie, dass es schwer ist, mit den Leuten hier ins Gespräch zu kommen?
12: Ich bin Putzfrau. Zwei Tage die Woche mache ich in einer Hotelkette sauber, und ich mache einmalige Einsätze bei allen möglichen Geschäftskunden. Und außerdem putze ich wöchentlich bei Privatleuten. Für zwölf Pfund die Stunde. Das ist viel für eine Putzfrau. Ich bin aber auch richtig gut. Entschuldige, ich rede und rede. Ich bin ein richtiges Plappermaul. Besonders wenn ich jemanden neu kennenlerne.
Xavier: Ich brauche eine Putzfrau. Bei mir sieht’s aus wie Kraut und Rüben.
12: Ich könnte am Samstag.
Xavier: Okay. Dann simse ich dir meine Adresse.
12: Prima.
Xavier: Okay, wir sollten wohl mal weitermachen mit dem, äh …
12: Ich glaub, die Hupe geht gleich.
22: Deine Stimme kommt mir bekannt vor. Woher kenne ich denn deine Stimme?
Xavier: Ich glaube, du irrst dich.
22: Bist du im Fernsehen oder so?
Xavier: Nein.
22: Hm. Um ehrlich zu sein, ich hab schon einen Freund. Ich bin bloß mit einer Freundin mitgekommen.
Xavier: Und ich mit einem Freund.
22: Echt? Welcher ist es?
Xavier: Der da hinten. Mit dem roten Hemd. Und den Locken.
22: Ach der. Ja, der war ganz nett. Aber das Stottern …
Xavier: Ich weiß.
Als die letzten ›Dates‹ vorbei sind und die Veranstaltung als ganz normaler Singleabend ausklingt, liegt spürbare Erleichterung in der Luft, und rund um die Bar kommen weniger steife Versionen der Gespräche an den Tischen in Gang. Ein DJ legt Club-Remix-Versionen von Sechziger-Jahre-Hits auf, die hin und wieder von den Ansagen des Moderators unterbrochen werden – »Ab auf den Floor, Leute!« Xavier geht zu Murray, der den obersten Hemdknopf geöffnet hat. Sein Haar hat sich in zwei breite Lager geteilt; hier und da wird es noch von dem Gel in Stellung gehalten, woanders springen widerspenstige Strähnen hoch.
»Und jetzt freuen wir uns auf die Abzocke an der Bar.«
»Wie lief’s bei dir?«, fragt ihn Xavier.
»G-g-gar nicht schlecht. Ein paar haben d-definitiv angebissen. Abwarten und Tee trinken. Und bei dir?«
»Ich habe eine Putzfrau engagiert. Der Abend war also nicht ganz für die Katz.«
Es ist bereits zehn Uhr, um Mitternacht werden sie auf Sendung sein. Xavier geht raus und besorgt ein Taxi, während sich Murray an der proppevollen Bar anstellt, um noch schnell zwei Drinks zu bestellen. Es wird nicht das erste Mal sein, dass sie ihre Sendung unter leichtem Alkoholeinfluss machen. Draußen vor der Bar hört Xavier immer noch das basslastige Stampfen der Musik. Er denkt an die vier Stunden im Studio, die vor ihm liegen, und lässt die Ereignisse des Tages oberflächlich Revue passieren. Die Auseinandersetzung der Jungen im Schnee beunruhigt ihn immer noch, aber er sagt sich, dass er sich nicht alles so zu Herzen nehmen darf, und versucht, nicht mehr daran zu denken. Er kann schließlich nicht auf jeden Menschen in London aufpassen. Außerdem liegt die Sache ja schon in der Vergangenheit.
II Manchmal hat Xavier noch keine Lust, ins Bett zu gehen, wenn Murray ihn morgens um halb fünf zu Hause absetzt. Dann sitzt er im Wohnzimmer vor den unbekannten Kriegsfilmen, die frühmorgens im Fernsehen kommen, oder schaltet auf irgendeinen Nachrichtensender und starrt auf das Laufband am unteren Rand mit seinen endlosen Telegrammbotschaften: WEITERER WIRTSCHAFTSABSCHWUNG BEFÜRCHTET , PRÄSIDENT AUF ÜBERRASCHUNGSBESUCH IM IRAK , NOBELPREISTRÄGER GEEHRT . Er sieht zu, wie irgendwelche Amerikaner mit leuchtenden Augen jedes noch so kleine Nachrichtenhäppchen durchkauen und zu Korrespondenten in jedem Kriegsgebiet der Welt schalten. Wenn sich Xavier den Gaza-Streifen oder Afghanistan vorstellt, wimmelt es dort nur so von Reportern und Kamerateams, die sich um jede Auseinandersetzung herumdrängen.
Manchmal setzt er sich ins Arbeitszimmer und schaltet den Computer ein. Die Radiosendung bringt ihm genug ein, um die moderate Miete zu zahlen, die noch nie angehoben wurde, seit er hier wohnt: Die Vermieterin ist mit einem Millionär verheiratet und macht sich kaum je die Mühe, das Geld überhaupt
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