Elfenkrieg
obersten Mauerring der Festung – der Spitze des Drachenfelsens – blickte er über das Land, welches einst sein Königreich gewesen war. Nichts erinnerte mehr an das alte Schattenreich. Die Städte, die sich um die vielen Oasen der Ebene von Edora drängten, flimmerten im gleißenden Licht der Sonne. Es war schwer vorstellbar, dass vor nicht allzu langer Zeit beständiger Nebel über ein graues Geröllfeld gekrochen war und sich da, wo nun die Häuser einer neuen Stadt in die Höhe ragten, die Baumriesen dem Himmel entgegengestreckt hatten.
Die untersten Mauerringe waren allesamt neu erbaut worden, genauso wie die Zugbrücke über die Drachenschlucht, nachdem all das im Krieg zerstört worden war. An der Festung selbst hatte sich ansonsten nicht viel getan. Immer noch schlängelte sich ein Mauerring nach dem anderen den Felsen hinauf, von wo aus die Wachen das Land überblickten.
Das Knirschen einer lockeren Bodenplatte hinter ihm holte Eamon aus seinen Gedanken. Er wusste, wer sich näherte, und auch, dass dieser gehört werden wollte. Nevliin würde beim Gehen niemals ein Geräusch verursachen, wenn er es nicht beabsichtigte.
»Hast du dich nach all den Jahren bereits an diesen Anblick gewöhnt?«, fragte Eamon, ohne sich umzudrehen, und sah weiter zur untergehenden Sonne.
Nevliin erschien neben ihm und stützte seine Ellbogen zwischen den Zinnen ab. »Ich habe dieses Bild länger gesehen als jenes zuvor. Mein Aufenthalt im Schattenreich zur Zeit des Krieges war nur von kurzer Dauer.«
»Richtig.«
»Und ich bin jeden Tag hier, sehe zur Sonne.«
»Es ist ein schönes Bild.«
»Ja, wirklich.«
»Wir werden wohl bald zurück ins Sonnental reisen.«
Nevliin nickte nur. Er verlor kein Wort über Vinae, und auch aus seinem Gesicht war nichts abzulesen. Einerseits wollte Eamon wissen, was der Ritter darüber dachte, andererseits war er auch dankbar für das Schweigen. Nach allem, was er Nevliin im Kampf um Vanoras Herz angetan hatte, wäre es schwer, zu erklären, wieso er sich auf Meara eingelassen hatte. Oder vielleicht hatte er auch gerade damit seinen Grund.
»Hast du mit dem Ritter gesprochen?«, fragte Eamon nach einer Weile, um das bedrückende Schweigen zu brechen.
»Nein.« Nevliin sah weiterhin zum glühenden Horizont. »Er ist auf Patrouille. Er wird zu mir gebracht, sobald er zurück ist.«
»Vielleicht kann er uns weiterhelfen. Ich wüsste nicht, was Vinae damit meinte: ›Der Nebel ist nicht von hier.‹ Eines scheint mir aber sicher: Die Jahre des Friedens sind nun endgültig vorbei.«
Nevliin warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu, verkniff sich jedoch die zynische Entgegnung, dass es niemals Frieden gegeben hatte und auch niemals geben würde. Vielleicht hätte er damit sogar recht.
Eamon beugte sich etwas vor und sah hinab zur Stadt Sincara. Das Bild war ihm fremd, wie alles in Lurness. »Nichts hier zeugt von der Schlacht, die hier gefochten wurde«, sprach er seinen Gedanken laut aus. »Vom Dunkelwald. Von dem vielen Blut, mit dem die Erde getränkt wurde.«
»Die Seelen, die verlorengingen.«
Eamon nickte. »Es gab wohl nichts in der Geschichte der Elfen, was auch nur annähernd so grausam war.« Der Gedankean Mearas Werk – den magischen Würfel, welcher mit der Kraft eines Grogons Seelen auslöschte – hatte ihn niemals losgelassen. Egal, wie hoch die Zahl der Toten in einer Schlacht auch war, nichts könnte jemals solchen Schaden verursachen.
»Ich denke häufig an jenen Tag«, brach Nevliin schließlich das kurze Schweigen. »Als ich den Würfel vor mir sah ... ich war mir sicher, dass es mit mir vorbei wäre.«
»Die Wahrscheinlichkeit war nicht sehr gering.«
»Natürlich, aber daran lag es nicht. Es war Liadan.«
»Meine Schwester?«
»Kurz vor der Schlacht führte ich ein Gespräch mit ihr. Seither denke ich immer wieder über ihre Worte nach. Ich stehe hier oben, sehe an jenen Ort, an dem der Würfel seine Macht entfaltete, und suche nach der Bedeutung. Doch ich komme zu keiner Antwort.«
»Was für ein Gespräch?«
»Sie bat mich, vorsichtig zu sein.«
Eamon hob fragend die Augenbrauen, doch Nevliin fuhr ohnehin bereits fort: »Da war mehr. Die Art, wie sie mich dabei ansah. Sie wollte mir irgendetwas sagen. Ich dachte, sie hätte meinen Tod gesehen oder Schrecklicheres. Sie flehte mich förmlich an, auf mich aufzupassen.«
»Liadan kann nicht in die Zukunft blicken. Sie wollte dich einfach nur in Sicherheit wissen. Du bedeutetest ihr ...«
»Ach.«
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