Elfenlicht
Obwohl sie zitterte und ein pochender Schmerz in ihrem Schädel klopfte, fiel es ihr so leicht wie nie zuvor, den Lichtbogen zu öffnen. Doch irgendetwas war anders als sonst.
»Senkt eure Waffen!«, befahl eine hohe Stimme. Ein recht korpulenter Kobold eilte durch den Mittelgang zwischen den Pulten auf sie zu. Er trug ein rotes Barett, von dem zwei zerzauste Federn hingen. Ein halbes Dutzend kleiner, hagerer Gestalten mühte sich hinter ihm ab, auf die Stehpulte zu steigen. Sie waren mit Armbrüsten bewaffnet, die sie an breiten Lederriemen auf den Rücken geschnallt trugen. Mit ihren schmächtigen Leibern und den tintenbefleckten Fingern wirkten sie so gar nicht wie Krieger. Man sah ihnen an, dass sie Schreiber, Beleuchter und Küchenhilfen waren. Aber in ihren Mienen spiegelte sich grimmige Entschlossenheit. Der Erste schnallte seine Armbrust ab, stellte einen Fuß in den eisernen Bügel der Waffe und begann sie mit Hilfe zweier seitlich angebrachter Kurbeln zu spannen.
»Aufhören!«, rief der Anführer der Koboldschar mit sich überschlagender Stimme. »Im Namen der Hüter des Wissens gebiete ich euch Einhalt!«
Ollowain hatte Ganda jetzt fast erreicht. Nur ein paar Schritte trennten ihn noch von dem schimmernden Lichtbogen. Ganda hätte von den Kraftlinien ablassen können, aber etwas erschien ihr merkwürdig. Unter den vertrauten, machtvollen Zaubern spürte sie wohl verborgen etwas Fremdes.
Das Iskendria der Menschen war nur ein paar Schritte entfernt. Doch dorthin zu fliehen wäre töricht. Die Wächter der Bibliothek würden ihnen leicht folgen können. Ganda wusste, dass sie und Ollowain sich tiefer in das goldene Netz wagen mussten, um einen anderen Weg zu finden. Im Gespinst der sich kreuzenden Albenpfade gab es tausend Möglichkeiten, seinen Weg zu finden. Emerelle war dagegen gewesen, auf einem direkten Weg hierher in die Bibliothek zu kommen, um ihre Mission vor den Yingiz, die draußen in der Dunkelheit des Nichts lauerten, geheim zu halten. Doch nun gab es keinen Anlass mehr zu solchen Winkelzügen. Sie konnten ohne den Umweg über die Welt der Menschen nach Albenmark zurückkehren.
»Erschießt zuerst die Lutin!«, befahl Kleos.
Der Anführer der Kobolde blinzelte nervös. »Ihr hört auf mein Kommando«, sagte er. »Kleos ist ...«
»Ein Hüter des Wissens!«, unterbrach ihn der Minotaur zornig. »Wie ihr seht, bin ich von den Verletzungen, die ich mir beim Bücherschlag zugezogen habe, wieder genesen. Die Lutin hat eine kostbare Schriftrolle aus der Halle des Lichts gestohlen. Ihr kennt die Gesetze der Bibliothek. Bücher und Schriften, die einmal hierher gelangt sind, verlassen Iskendria nie wieder. Dies ist ehernes Gesetz. Wer dagegen verstößt, ist des Todes.« Ollowain begann zu laufen.
»Alles hört auf mein Kommando!«, rief Kleos.
»Er ist ein Lügner und Mörder!« Ohne auf Ganda zu achten, legten die Kobolde Bolzen in ihre Armbrüste. Ihr Anführer machte keine Anstalten mehr, Kleos den Befehl streitig zu machen.
»Weg hier!« Ollowain hob Ganda hoch. Dabei gab er sich Mühe, den Armbrustschützen, so gut es ging, die Sicht auf sie zu versperren. Die Lutin konnte gerade noch über die Schulter des Elfen blicken. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie et
was falsch machten.
Etwas stimmte nicht.
»Legt an!«, kommandierte Kleos, und die Kobolde hoben ihre Armbrüste an die Schultern.
»Ausrichten!«
Ganda hatte den Eindruck, dass Kleos gar nicht wollte, dass sie erschossen wurden. Er wollte etwas anderes. Er hätte doch schon längst befehlen können zu schießen. Warum tat er das nicht? Sie sah, wie einer der Kobolde unter dem Gewicht seiner Waffe zu zittern begann. Man zielte nicht so lange mit einer Armbrust. Dazu waren diese Waffen zu schwer!
Ollowain trat durch das Tor.
Ganda spürte einen Sog. Er war kaum wahrnehmbar. Eine fremde Kraft. Der Pfad aus der Bibliothek hinaus war manipuliert. Wohl verborgen zwischen der Magie der Alben gab es einen neuen Zauber.
Der Schwertmeister schien nichts zu bemerken.
Das Tor hinter ihnen begann sich zu schließen. Viel schneller als üblich! Deutlich sah Ganda nun Kleos blaue Augen. Sie hatte es gewusst! Der Minotaur lächelte.
Jetzt, wo sie mit allen Sinnen darauf achtete, spürte sie den fremden Zauber deutlich. Sie waren in seiner Gewalt, so lange sie den Pfad nicht verließen. Das war es, was ihr Feind gewollt hatte!
Gandas Mund war jetzt staubtrocken. Sie zitterte immer heftiger. Es war tödlich kalt! Sie musste an
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