Elfenliebe
sie sich jemals an den Anblick dieser wunderschönen schweigsamen Wächter gewöhnen würde, die sie niemals ansprachen und sie so gut wie nie ansahen. Sie waren immer da, auch wenn sie sie nicht sehen konnte. Das wusste sie jetzt. Einen Moment lang fragte sie sich, wie viele sie seit ihrer Kindheit wohl beobachtet hatten. Doch allein der Gedanke war einfach zu demütigend. Eltern, die die eigenen Spiele und Streiche beobachteten, waren eine Sache – namenlose, übernatürliche Wächter etwas vollkommen anderes. Laurel schluckte, lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Weg und versuchte, an etwas anderes zu denken.
Bald schon gelangten sie durch den Ring aus schützenden Rothölzern zu dem knorrigen Baum. Die Elfenwächter
stellten sich in einem Halbkreis auf, und nach einer vielsagenden Geste von Shar, dem Führer der Wachtposten, löste Tamani seine Hand aus Laurels starrem Griff und reihte sich ein. Laurel stand nun zwischen all diesen Wachtposten und umklammerte die Riemen ihres Rucksacks. Sie atmete schneller, als die Wachtposten, einer nach dem anderen, eine Hand an die Baumrinde legten – genau dort, wo der Stamm sich teilte. Dann begann der Baum zu vibrieren und das Licht der Umgebung schien sich in seinen Zweigen zu sammeln.
Laurel nahm sich fest vor, diesmal die Verwandlung zu beobachten. Sie blinzelte entschlossen gegen das Glühen an, doch dann zwang ein gleißender Blitz sie, für einen winzigen Moment die Augen zu schließen. Als sie sie wieder öffnete, hatte sich der Baum bereits in den hohen goldenen Torbogen verwandelt, dessen Streben rundum von Kletterpflanzen mit weißen Blüten umrankt wurden. Das Tor war durch zwei dicke Pfosten im Boden verankert und stand ansonsten frei, mitten im lichtdurchfluteten Wald. Laurel hatte nicht gemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte, jetzt atmete sie hörbar aus. Als das Tor sich öffnete, hielt sie erneut die Luft an.
Es wurde spürbar wärmer, und noch aus drei Metern Entfernung roch sie den intensiven Duft von Fruchtbarkeit und Wachstum, der sie an die Zeit erinnerte, als sie ihrer Mutter im Garten geholfen hatte. Hier war er jedoch viel stärker – das reinste Parfüm in Flaschen eingefangenen Sonnenlichts! Laurel spürte, wie sich ihre
Füße von allein vorwärtsbewegten, und war schon fast durch das Tor hindurchgegangen, als jemand ihre Hand berührte. Sie erschrak, als sie Tamani an ihrer Seite erblickte, der aus der Formation herausgetreten war, um sanft ihre Hand zu nehmen. Eine Berührung an ihrer anderen Hand ließ sie augenblicklich zurück zum Tor blicken.
Jamison, der alte Winterelf, dem sie im Herbst schon einmal begegnet war, hob ihre freie Hand hoch und legte sie wie ein Gentleman in einem Historienfilm auf seinen Arm. Warmherzig, doch zugleich entschieden, lächelte er Tamani an. »Danke, dass du uns Laurel gebracht hast, Tam. Ab hier werde ich sie begleiten.«
Tamani zog seine Hand nicht sofort zurück. »Ich besuche dich nächste Woche«, sagte er leise, aber keineswegs flüsternd.
Die drei standen noch ein paar Sekunden zusammen, als wäre die Zeit angehalten worden. Dann nickte Jamison einmal kurz in Richtung Tamani. Tamani nickte zurück und nahm wieder seinen Platz im Halbkreis der Wachtposten ein.
Laurel fühlte, wie er sie ansah, doch sie wandte sich bereits wieder der strahlenden Glut zu, die ihr durch das Tor entgegendrang. Eigentlich wollte sie Tamani so kurz nach ihrem Wiedersehen nicht schon wieder zurücklassen, doch der Sog von Avalon war zu stark, um noch länger zu verweilen. Er würde sie ja bald besuchen kommen.
Jamison trat direkt unter den goldenen Torbogen und winkte Laurel weiter, während er ihre Hand auf seinem
Arm freigab. »Willkommen zu Hause, Laurel«, sagte er sanft.
Mit angehaltenem Atem schritt Laurel durch das Tor – und setzte zum ersten Mal einen Fuß nach Avalon. Nicht zum allerersten Mal, erinnerte sie sich. Hier komme ich schließlich her.
Einen Moment lang sah sie über sich nichts als die Blätter einer riesigen ausladenden Eiche und zu ihren Füßen dunkle lockere Erde; links und rechts wuchs hohes smaragdgrünes Gras. Jamison führte sie unter dem Blätterdach hindurch in die Sonne, deren Strahlen sie blinzeln ließen und ihre Wangen augenblicklich wärmten.
Sie befanden sich in einer Art ummauertem Park. Auf der schwarzen, feuchten Erde schlängelten sich Pfade durch das lebendige Grün, das sich bis zu einer Steinmauer erstreckte. Laurel hatte noch nie eine so hohe Mauer aus Stein
Weitere Kostenlose Bücher