Elfenliebe
dazwischen lagen dicke bunte Haufen, die Laurel nicht einordnen konnte. Sie wirkten wie gigantische Ballons, die in jeder erdenklichen Farbe wie Seifenblasen schimmerten. Weiter unten sah sie die Dächer kleiner Häuser, die in einem Kreis um den Fuß des Hangs standen. Laurel konnte winzige Farbpunkte erkennen, die sich bewegten – das mussten Elfen sein.
»Da sind ja Tausende …«, staunte sie und merkte nicht, dass sie laut gesprochen hatte.
»Allerdings«, sagte Jamison mit einem Anflug von
Heiterkeit. »Beinahe alle unsere Artgenossen leben hier. Derzeit sind wir mehr als achtzigtausend.« Er hielt inne. »Das klingt für dich wahrscheinlich eher gering.«
»Nein«, erwiderte Laurel prompt. »Ich meine, ich weiß schon, dass es mehr Menschen gibt, aber … Ich hätte mir nie so viele Elfen auf einmal vorstellen können.« Merkwürdig – sie fühlte sich plötzlich ganz normal und gleichzeitig vollkommen unbedeutend. Sie war ja schon anderen Elfen begegnet – Jamison, Tamani, Shar, den Wachtposten, die sich ihr hin und wieder gezeigt hatten, aber der Gedanke an Tausende und Abertausende von Elfen war schlicht überwältigend.
Laurel spürte Jamisons Hand im Kreuz. »Du wirst noch Gelegenheit haben, dich umzusehen«, sagte er sanft. »Jetzt bringen wir dich zur Akademie.«
Laurel folgte ihm die Steinmauer entlang. Als sie das Ende der Einfriedung erreichten, hielt sie einmal mehr den Atem an. In einer Entfernung von etwa einem halben Kilometer vom Fuß des sanft ansteigenden Hügels reckte sich ein gewaltiger Turm in den Himmel, der aus der Mitte eines historisch anmutenden Gebäudekomplexes aufragte. Das Ensemble wirkte nicht wie ein Schloss – eher wie eine riesige, aus grauem Stein im Karree angelegte Bibliothek mit steilen Dächern. In jede Mauer waren riesige Fenster eingelassen und zwischen den schiefergrauen Schindeln glitzerten Oberlichter in allen Facetten des Prismas. Die Mauern waren von Rankengewächsen überzogen und mit Blumen verziert; Blattwerk überwucherte die Außenmauern, die
von einer unvorstellbaren Vielfalt an Pflanzen üppig bewachsen waren.
Jamison beantwortete die Frage, die Laurel vor lauter Staunen nicht stellen konnte. Er streckte den Arm aus und sagte: »Die Akademie von Avalon.«
Zwei
W ährend sie auf die Akademie zugingen, entdeckte Laurel – sobald sich eine Lücke im Wald auftat – ein weiteres Gebäude. Es handelte sich um die verfallenen Ruinen eines Schlosses, das ehemals etwas höher als die gewaltige Akademie oben auf einem hohen Hügel gestanden hatte. Laurel spähte hinauf. Das Schloss verfiel nicht tatsächlich – denn grüne Taue schlängelten sich wie Nähte durch den weißen Marmor und hielten die Mauern zusammen. Das Blätterdach eines riesigen Baumes breitete sich darüber und legte die Hälfte des Bauwerks in Schatten. »Ist das da ein Schloss?«, fragte Laurel, als es erneut in ihr Blickfeld geriet.
»Das ist der Winterpalast«, sagte Jamison. »Dort wohne ich.«
»Ist das nicht ein bisschen zu gefährlich?«, fragte Laurel zweifelnd.
»In einem gewissen Sinne schon«, antwortete Jamison. »Das ist einer der gefährlichsten Orte in ganz Avalon. Nur ich bin dort sicher – das heißt, alle, die dort wohnen.«
»Fällt er eines Tages zusammen?«, fragte Laurel und beäugte skeptisch eine Ecke des Palastes, die von einem Korsett aus blaugrüner Spitze gehalten wurde.
»Nein«, erwiderte Jamison. »Wir Winterelfen kümmern
uns seit über dreitausend Jahren um das Schloss. Die Wurzeln des Rotholzes wachsen inzwischen in und mit dem Schloss und sind Teil des Bauwerks, so wie der Marmor. Der Baum würde es niemals fallen lassen.«
»Warum baut Ihr nicht einfach ein neues?«
Jamison schwieg einen Moment, und Laurel fürchtete schon, sie hätte ihn mit ihrer Frage beleidigt. Als er antwortete, klang er jedoch nicht ungehalten. »Das Schloss ist nicht nur unser Zuhause, Laurel. Es ist auch der sichere Ort für eine Menge Sachen – Dinge, die wir nicht einfach anderswo hinbringen können, nur weil es dort bequemer wäre oder wir lieber in einem neuen Gebäude wohnen würden.« Dann zeigte er lächelnd auf das graue steinerne Ziel ihres Wegs. »Dafür haben wir die Akademie.«
Laurel blickte zurück auf den Winterpalast. Anders als beim ersten Anblick, als sie nur wild durcheinanderlaufende Schlingen wahrgenommen hatte, konnte sie jetzt eine Ordnung, ja Methode, in dem grünen Gitterwerk ausmachen. Die Mauerecken waren sorgfältig bandagiert und ein
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