Elfenlord
Sie war zufällig im Kloster gelandet. »Und du glaubst, da ist wirklich eine Schlange?«
»Wahrscheinlich«, sagte das Charno.
Sie standen da und musterten einander auf dem felsigen Vorplatz. Blue war immer noch gekleidet wie ein junger Mann und die seelenvollen braunen Augen des Charnos waren auf Höhe ihrer eigenen. Hinter ihnen lauerte der Eingang zur Höhle, drohend und dunkel.
Das Problem war, dass sie auch dem Charno nicht ganz traute.
Das Problem war, dass allen Behauptungen zum Trotz Henry doch dort drinnen sein konnte.
ACHTUNDSECHZIG
E s gab Einzelheiten an seiner Lage, die Henry nicht verstand.
Das begann schon mit der Ruinenstadt. Es war ganz offensichtlich, dass nicht Lorquins Volk sie erbaut hatte. Es fand sich nichts über sie in den alten Legenden, mit Ausnahme einer Legende, die davon erzählte, wie sie sie gefunden hatten. Henry hörte sie von Brenthis, dem Hauptgeschichtenerzähler des Stammes.
Vor langer Zeit, sagte Brenthis, zu einer Zeit, als die Welt noch saftig und voller Wasser war, waren die Luchti die Nahrungsquelle für die wilde Rasse der Buth.
Eines Tages entdeckte eine Luchti-Frau namens Euphrosyne eine wunderbare Lade, die ihr erlaubte, direkt mit Charaxes zu sprechen. Wie die Bundeslade im Alten Testament, dachte Henry, als Brenthis bei diesem Teil der Geschichte angelangt war. Und Charaxes hörte sich genauso blutrünstig an wie der Gott des Alten Testaments, weil er eine große Katastrophe über die Buth brachte, die sie völlig vernichtete. Dies führte zur Befreiung der Luchti, ließ aber das ganze Land austrocknen, sodass es zu einer Wüste wurde und die Luchti Wanderer in der Wüste wurden, immer und überall auf der Suche nach Essen und Wasser. Das hörte sich wiederum verdächtig nach dem Exodus der Kinder Israels aus Ägypten an, dachte Henry stirnrunzelnd. Es war gespenstisch, wie einige Dinge im Elfenreich die Geschichte seiner eigenen Welt widerspiegelten. Aber Brenthis redete immer noch, und Henry richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn, damit er nichts verpasste.
Dank der wunderbaren Lade, sagte Brenthis gerade, begleitete Charaxes die Luchti auf ihrer Wanderung, und als sie die Wüste erreichten, in der es keine Hoffnung auf Leben zu geben schien, lernten sie eine geheime Kunst desDenkens, die ihnen erlaubte, bestimmte Aspekte der Wirklichkeit zu verändern. Es war eine schwierige Kunst, und sie brauchten Monate, um sie zu beherrschen, aber als es soweit war, sank der ganze Stamm unter den Wüstensand und sie entdeckten die Ruinen einer mächtigen Stadt von einer Art, wie sie von niemandem jemals zuvor erblickt worden war. Und dorthin, zu den Ruinen der Stadt, waren sie seitdem immer wieder zurückgekehrt, obwohl sie jedes Jahr viele Monate durch die wüste Wildnis zogen, um ihre Befreiung von der Sklaverei zu feiern.
Für Henry klang das wie die Art von Legende, die sich aufgrund einer Fehlinterpretation tatsächlicher Ereignisse herausgebildet hatte. Vielleicht war Lorquins Volk wirklich in ferner Vergangenheit versklavt worden. Vielleicht waren ihre Sklavenhalter, die Buth, in einem Krieg besiegt worden oder irgendeiner Naturkatastrophe zum Opfer gefallen. Aber wer hatte die Stadt erbaut? Und wie wurde sie erhalten in dieser unmöglichen Luftblase unter dem Sand? Wie wurde sie – noch jetzt, als Ruine – mit Licht und Luft und genügend Wasservorräten versorgt? Und am Rätselhaftesten überhaupt: Wie war es den Luchti gelungen, dorthin zu gelangen? Was für geistige Fähigkeiten sie dafür auch einsetzen mochten, für Henry waren sie völlig unbegreiflich. Wann immer er an die Oberfläche wollte, musste er von Lorquin oder einem anderen freundlichen Mitglied des Stammes begleitet werden.
Aber die Stadt war nur der Anfang. Er verstand noch immer nicht, wie die Luchti überleben konnten bei ihren Wanderungen durch die Wüste, wenn sie nicht dort waren. Es gab nicht genug Wasser, nicht genug Nahrung, nicht genug Schutz, um sie alle am Leben zu erhalten. Es war schon für Lorquin und ihn schwierig genug (und ohne die besonderen Fähigkeiten Lorquins unmöglich) gewesen, aber nun sah er, dass die Luchti ein großer Stamm waren. Wie konnte die Wüste sie alle ernähren? Als er Brenthis diese Frage stellte, zuckte der Geschichtenerzähler nurmit den Schultern und bemerkte: »Sind wir nicht genauso geschickt wie die Vaettire?« Was insofern stimmte, als offensichtlich die Vaettire und ihr Draugr ebenfalls überlebten, aber als Erklärung war das
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