Elfenlord
dennoch nicht sehr hilfreich.
Auch für andere Dinge, die Henry beschäftigten, bekam er keine Erklärung. Die Luchti wussten nicht, warum ihre Haut blau war, und sagten bloß, dass es der »Wille von Charaxes« war. (Henrys eigene Hautfarbe schien sich abgesehen von dem einen Mal, als er eine leichte blaue Verfärbung festgestellt hatte, nicht weiter zu verändern.) Sie wussten überhaupt nichts über die Gegenwelt oder Kaiserin Blue und ihr Elfenreich. Sie kannten nicht den Namen ihres eigenen Landes (es hieß nur »Das Wüste Land«). Sie wussten weder, wie Henry in die Wüste gekommen war, noch, was viel wichtiger war, wie er wieder herauskam.
Was sie aber wirklich wussten, war, dass für den Stamm ein großes Fest längst überfällig war.
Lorquin konnte von nichts anderem mehr reden. »Es ist eigentlich
mein
Fest, EnRi«, sagte er. »Weil sie es nicht feiern konnten, bis ich den Draugr getötet hatte. Aber es geht nicht nur um mich. Die Traumpfade des Stammes für das nächste Jahr werden festgelegt, und Charaxes wird gedankt, und jeder bekommt ganz viel zu essen, und alle tanzen, und ich finde vielleicht eine Frau und –«
»Frau?«, rief Henry aus. »Lorquin, du bist erst zehn!«
»Ich weiß«, sagte Lorquin glücklich. »Und Ino wird aus den Knochen lesen, und Euphrosyne wird mit Charaxes sprechen, und es wird getrommelt werden, und jeder wird ganz viel Melor trinken.«
Henry runzelte die Stirn.
Euphrosyne?
Ino war der gedrungene Mann mit den Tätowierungen und schien so eine Art Medizinmann zu sein, aber Euphrosyne war doch die Frau, die Charaxes’ geheimnisvolle Lade am Uranfang der Stammesgeschichte gefunden hatte. »Wie alt ist denn Euphrosyne?«, fragte er neugierig.
»Zwanzig Jahre und drei Monate«, sagte Lorquin prompt.
»Sie ist nicht dieselbe Euphrosyne, die die Lade gefunden hat, oder?«
Lorquin warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Wenn du nicht mein Gefährte wärst, EnRi, würde ich vielleicht denken, dass du ein wenig einfältig bist. Euphrosyne ist die Tochter der Tochter der Tochter der Tochter der –«
»Hab schon verstanden!«, sagte Henry schnell zu ihm. Da gab es ganz offensichtlich im Dienste von Charaxes eine priesterliche Linie, die von der ursprünglichen Euphrosyne zu ihrer Tochter und dann von Tochter zu Tochter weiterreichte. Er fragte sich, ob sie noch die ursprüngliche Lade besaßen. Es wäre interessant, sie zu sehen.
»– Tochter der Tochter der Tochter der Tochter der Tochter der Tochter der Tochter der Tochter der Tochter …«
Henry stahl sich davon.
NEUNUNDSECHZIG
E s begann mit einem einzelnen Trommler.
Henry beobachtete, wie der Mann den riesigen Platz im Zentrum der Stadt betrat. Seine Trommel war eine spitz zulaufende Holzröhre, die an einem Ende offen war und an dem anderen von so etwas wie Ziegenhaut überzogen. Sie war mit winzigen aufgemalten Schädeln prächtig verziert, vermutlich von einem kleinen Nagetier.
Der Mann ging unsicher über das aufgerissene Pflaster und starrte auf die Häuserruinen wie ein Tourist, der auf eine neue Sehenswürdigkeit gestoßen war. Dann hockte er sich mit der Trommel zwischen seinen Knien auf einer Seite des Platzes hin, schlug auf die Ziegenhaut und begann mit einem schlichten Tap … Tap … Tap, ohne dass maneinen Rhythmus erkennen konnte. Die Trommel hatte keine besonders gute Resonanz: Entweder das, oder der Sand verschluckte viel von ihrem Klang.
»Gehen wir schon runter?«, fragte Henry leise. Sie standen an einem Fenster in den Mauerresten des zweiten Stocks eines besetzten Hauses. An den Fenstern vieler Häuser um sie herum sah man blaue Gesichter.
»Nein«, sagte Lorquin. Seine Augen leuchteten sehr.
Ein zweiter Trommler erschien aus dem Dunkel einer Gasse. Er bewegte sich zielgerichteter, ging direkt in die Mitte des Platzes und beachtete seine Umgebung nicht. Auch er hockte sich hin und begann zu spielen, aber dieses Mal
gab
es einen Rhythmus: Beide Trommeln zusammen klangen wie ein mächtiger Herzschlag und jetzt gab es auch die Resonanz, die eben noch gefehlt hatte. Henry glaubte, einen kollektiven Seufzer von den Mitgliedern des Stammes zu hören, die zuschauten und lauschten.
Eine ganze Weile gab es keinerlei Veränderung:
Tschabum … tscha-bum … tscha-bum … tscha-bum …
Der Klang war leicht hypnotisch. Henry, der mit der Aussicht auf das Fest ganz aufgeregt war, spürte, dass er sich entspannte. Aber Lorquins Augen funkelten noch immer.
Dann kam von
Weitere Kostenlose Bücher