Elfenschwestern
hatten schräg geschnittene Katzenaugen, seine leuchteten wie Amethyste, ihre wie Bernstein. Und sie hatten beide dichtes helles Haar, das meistens die ungewöhnlich geformten Ohrmuscheln verbarg. Grays kurzer Lockenschopf erinnerte an eine Löwenmähne, fand Lily. Dass ihre eigenen weichen Wellen wild gesträhnt waren, ließ sich selbst in der schwarzen Scheibe erkennen. Dunkle Partien durchzogen das matt schimmernde Gold.
„Tiger!“
Grays Stimme schreckte Lily auf. „Hm?“, machte sie. Ihr war heiß, sie lockerte ihren großmaschigen pinkfarbenen Schal und befreite die ledernen Knebelknöpfe ihres grauen Dufflecoats aus ihren Schlingen.
„Tiger“, sagte Gray wieder. „Sieh doch. Glühwürmchen!“
Lily blickte aus dem Fenster. Verschwunden waren die schwarzen Moore und Wiesen. Lichter zuckten vorüber, erhellten schon ganze Straßenzüge. Es war nicht mehr weit.
Gray klebte förmlich an der Fensterscheibe. Stützte eine Hand rechts und eine Hand links von seinem Gesicht gegen die Scheibe, um nicht sein Spiegelbild zu sehen, sondern das, was da draußen war.
„Glühwürmchen, Gray? Im Dezember? Das kann nicht sein.“ Lily rückte näher ans Fenster. „Es war bestimmt irgendeine Leuchtreklame oder ein Autoscheinwerfer.“
„Nein“, widersprach Gray aufgeregt. „Es sah aus wie ein großes Glühwürmchen. Ein sehr, sehr großes Glühwürmchen. So etwas habe ich noch nie gesehen.“
„Hm.“ Lily lehnte sich wieder in ihrem Sitz zurück und gähnte, dass es ihr fast den Kiefer ausrenkte. „’tschuldige, Gray.“
Gray lächelte sie an. Dann wechselte sein Gesichtsausdruck zu Besorgnis. „Bist du zu erledigt zum Eislaufen?“
„Von wegen“, begehrte Lily auf. „Ich bin hellwach! Ich lass mir doch nicht durch viel zu viele, viel zu lange Schulstunden unseren Eislauftag ruinieren. Klar?“
Gray strahlte. „Klar.“
Gray war acht. Er reichte seiner sechzehnjährigen Schwester ungefähr bis zum Ellenbogen, aber zwischen all den Erwachsenen im Londoner Freitagabendgedränge schien er kleiner zu sein als sonst.
„Bleib bloß bei mir“, sagte Lily nervös. „Ja, Gray? Gray???“
Gray war nicht mehr zu sehen. Die hin und her brandenden Menschenmassen, von denen Lily sich sonst so gerne treiben ließ, wenn sie allein in London war, hatten ihren Bruder verschluckt. Lily fühlte, wie ihr heiß wurde vor Schreck. Dann trat eine Frau in violettem Sari und karamellfarbenem Tuchmantel zur Seite und Lily erhaschte einen Blick auf blondes Haar über blauem Anorak.
Sie griff nach Gray wie eine Ertrinkende nach dem Rettungsring. „Gray, ich weiß, du bist zu alt dafür“, sagte Lily, „aber ich würde mich besser fühlen, wenn du meine Hand halten könntest.“
Gray packte ihre Linke. „Ich mich auch, Tiger.“
Hand in Hand überließen sie sich dem Menschenmeer. Folgten dem Strom hinunter in die Tube, die U-Bahn, die durch die Tunnel sauste, und schließlich auf die Rolltreppen, die sie wieder zurück an die Oberfläche transportierten.
Ein eisiger Wind wehte.
„Kein Schnee“, stellte Gray mit hörbarem Bedauern fest.
„Aber kalt genug ist es dafür“, befand Lily. „Mach die Jacke zu. Und lass uns die Handschuhe anziehen.“
Gray gehorchte. Dann wandte er Lily ein flehendes Gesicht zu. „Versuch’s“, sagte er. „Für mich. Ja, Tiger?“
Lily zögerte.
„Biiitte“, sagte Gray. „Ich würde so gerne wissen, ob es schneien wird.“
Seufzend zog Lily ihn in einen Hauseingang. Menschen eilten an ihnen vorbei, während Lily die Augen schloss und tief einatmete. Da war der Abgasgestank der Blechlawine, die sich an ihnen vorüberwälzte. Da waren all diese Passanten, an denen noch die Erschöpfung einer langen Arbeitswoche haftete oder schon der Hunger auf eine aufregende Freitagnacht. Da waren die schweren Duftschwaden, die aus einer Parfümerie zogen, und der Fettgeruch, der über einem Imbiss hing. Und da war der Wind. Singend strich er durch die Straßen, gewann in den Häuserschluchten an Geschwindigkeit, fuhr den Tauben vor der National Gallery unters Gefieder und den Menschen ins Genick. Die Vögel flatterten auf, die Londoner schüttelten sich, der Wind machte sich heulend davon. Und ließ eine Ahnung von Schnee zurück.
Lily öffnete lächelnd die Augen.
Gray jubelte los, noch bevor sie etwas sagen konnte. „Wir müssen zur Eislaufbahn, bevor es anfängt, Tiger“, rief er und zog an Lilys Hand, als wäre er wieder fünf.
Weihnachtsdekorationen blinkten in den
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