Elfenschwestern
schneeweißen Zapfen, Nüssen und Jagdhörnern dicht behängten Äste schienen ihn zu verzaubern. „Es ist der Schönste, den sie je hatten, finde ich“, murmelte er. „Welches Märchen erzählt er?“
Lily zögerte. Sie hätte nicht sagen können, wieso, aber der Baum machte ihr Angst. Und genau wie nur Stunden zuvor auf der Brücke am Pine Ridge konnte sie ein Schaudern nicht unterdrücken. Was ist heute nur los mit mir?, fragte sie sich und fasste sich an den plötzlich dröhnenden Kopf.
„Es sind Brüderchen und Schwesterchen, denke ich“, sagte Jolyon. Er stand dicht neben Lily, stützte sie noch immer. „Siehst du da, Gray? Wie sie das Kitz umarmt?“
Das Geschwisterbildnis war von innen mit Silberfarbe ausgegossen. Es zeigte Bruder und Schwester, die beide auf den Knien lagen, das Mädchen das Tier umhalsend, ihre Wange an seine Flanke geschmiegt, seine Nüstern ihr langes Haar liebkosend.
„Sieht sie nicht traurig aus?“, fragte Jolyon nachdenklich.
Gray schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Sie ist glücklich, dass sie ihren Bruder hat. Es ist ihr egal, ob er ein Menschenjunge oder ein Rehkitz ist.“
Nein, dachte Lily. Beides falsch. Sie fürchtet sich. Sie versucht, ihn davon abzuhalten, mit den Jägern zu laufen, weil sie weiß, dass es ihn das Leben kosten kann. Sie will ihren Bruder beschützen, aber sie kann es nicht.
Lily schwankte, ihr Kopf pochte inzwischen schlimmer.
Jolyon packte sie fester.
„Es geht schon“, protestierte Lily.
„Ich denke nicht“, entgegnete er. Zu Gray gewandt sagte er: „Komm, deine Schwester sollte sich hinsetzen.“ Damit zog er Lily weiter. Einfach so.
Wusste er, was er da tat? Wusste er, wie eisenhart sein Griff war? Lily drehte sich zu ihm um, aber der Protest blieb ihr in der Kehle stecken.
Oh, dachte Lily. Und dann dachte sie nichts mehr, sondern schaute nur, schaute ihn zum ersten Mal richtig an.
Ihr Retter war umwerfend. Groß, mit einer Masse zerzaustem, dunklem Haar, entschlossen zusammengepressten Lippen, kantigem Kinn und diesem Blick aus Stahl. Menschen drängten an ihnen vorbei, lachend, mit leuchtenden Augen und roten Backen, Glühweinbecher in der Hand, die Schlittschuhe über der Schulter. Doch Lily bemerkte sie kaum, war sich nur dieses einen neben sich bewusst. Es kommt sicher von dem Schlag gegen meinen Hinterkopf, dachte sie, dass ich mich so benommen fühle. Oder?
Jolyon dirigierte sie zu dem niedrigen Zelt am Rande der Eislauffläche. Er eroberte einen plüschigen Sessel für sie, indem er den Mann darin verscheuchte, und ging, um die Frau hinter der Theke nach einem Erste-Hilfe-Set zu fragen.
Lily sank in die Polster. Hier drin war es warm, Kerzen brannten auf niedrigen Tischen, die Menschen um sie herum plauderten so entspannt, dass es leichtfiel, für einen Moment zu vergessen, wie schnell man hilflos auf Asphalt landen konnte. Oder in den Armen eines Fremden.
Gray ließ seinen Rucksack neben sie fallen und kletterte auf ihren Schoß. Das hatte er seit Jahren nicht mehr getan. Es zeigte Lily mehr als alles andere, welche Angst ihr Bruder um sie gehabt hatte. Auch wenn ihr Körper aufstöhnte, ließ sie Gray gewähren, konnte allerdings nicht verhindern, dass sie einmal vor Schmerz zusammenzuckte.
„Tiger?“, flüsterte Gray.
„Alles in Ordnung“, flüsterte Lily zurück.
Gray presste seine Nase gegen ihre Wange und schwieg. Lily drückte ihn seufzend an sich. Sie wusste, er war nicht überzeugt.
Als Jolyon samt einem Erste-Hilfe-Kasten wieder neben ihnen auftauchte, warf er nur einen Blick auf die Geschwister. „Du musst dir keine Sorgen machen, Gray“, sagte er, während er vor Lily in die Hocke ging. „Schau, dieses Eisspray sprühen wir ihr auf die geschundenen Knie und schon fühlt sie sich besser.“
Lily spürte, wie Gray sich etwas entspannte.
„Ehrlich?“
„Ehrlich“, versicherte Jolyon. Zu Lily sagte er: „Darf ich?“ Umfasste mit einer Hand ihre rechte Wade und begann, Wollfäden ihrer zerrissenen Leggins aus der Wunde zu zupfen.
Lily sprangen die Tränen in die Augen. Hastig beugte sie sich vor, sodass ihre Haare ihr schützend ins Gesicht fielen.
Jolyon griff zu seinem Wunderspray.
„Hilft’s?“, fragte Gray, als sich feiner Nebel auf Lilys Knie legte.
Lily wischte sich einmal verstohlen über die Augen. „Total“, erklärte sie und schaute hoch.
Jolyons Gesicht war nur eine Handbreit von ihrem entfernt. Sie sah die Silberflecken in der ungewöhnlich blauen Iris. Sah, wie seine
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