Elfenschwestern
Schaufenstern, Lichterketten hingen in Bögen über der Straße. Die Geschwister liefen unter den falschen Sternbildern hindurch, die den ganzen Strand entlang funkelten. Lily begann mit Grays Hand in ihrer ein bisschen herumzuschlenkern.
Gray sah zu ihr hoch, und sie war sich sicher, dass sie das gleiche Gesicht machte wie er. Das der zufriedenen Fairchild-Katze, die aussieht, als habe sie heimlich Sahne geschleckt. Die Mundwinkel gekräuselt, die Augen schmal vor Glück.
Die Geschwister fingen im selben Moment an zu summen. Tauschten einen Blick und lachten.
Lily sang: „Hört die Himmelsboten singen!“
Gray stimmte ein: „Friedenskunde uns zu bringen. Glory to the new born king.“
Es war jenes Weihnachtslied, das Lily ihrem Bruder schon in seinem ersten Winter vorgesungen hatte.
Draußen fiel lautlos der Schnee vom Himmel, während Lily drinnen an der Wiege saß, ihren Babybruder betrachtete und dachte, dass keine Verse besser passten als diese. Gray schlief in dem hölzernen Kinderbettchen, in dem schon seine beiden Schwestern gelegen hatten, erst Rose, dann Lily. Um den Rand des Bettchens lief ein Band aus hellrosa Hagebuttenblüten und auf jeder Seite bog sich ein Paar gestreifter Tigerlilien. Direkt nach Grays Ankunft hatte Mum die Umrisse von zarten Rosenknospen dazugepinselt. Das Bett gab es immer noch. Es stand wie gewohnt neben Mums, heute mit Stapeln von Büchern und Zeitschriften darin. Doch die Rosenknospen waren bis heute ohne Farbe geblieben.
„Ich konnte mich einfach nicht entscheiden“, pflegte Mum zu erklären. „Vielleicht will Gray es eines Tages tun.“
„Glory to the new born king“ , sangen Lily und Gray, als sie an einer roten Ampel stehen blieben. Auf der anderen Straßenseite lag Somerset House. Durch die Torbögen hindurch konnte Lily schon die Eisbahn sehen. Fackeln warfen flackerndes Licht auf die Schlittschuhläufer, die an einer riesigen Tanne vorüberglitten.
Gray zappelte vor Aufregung ein bisschen herum. „Meinst du, Mum ist schon da? Kannst du sie entdecken?“
„Nein.“ Lily war plötzlich so ungeduldig wie ihr Bruder. „Komm mit.“
Sie schlängelten sich bis an den Bordsteinrand. Lilys Stiefelspitzen berührten die Kante. „Ob es wohl auch noch mal grün wird?“, murmelte Lily.
Grays Erwiderung hörte sie nicht mehr. Ein Stoß zwischen die Schulterblätter katapultierte sie nach vorne. Grays Hand rutschte aus ihrer und Lily stürzte auf die Fahrbahn, mitten in den Verkehr, landete auf allen vieren, spürte Schmerz in ihren Knien explodieren. Menschen schrien und Bremsen quietschten. Lily hob den Kopf. Ein Paar blendend weißer Scheinwerfer kam direkt auf sie zu. Doch noch bevor sie auch nur Zeit hatte zu denken: Das schaffe ich nie!, wurde sie gepackt und zurückgerissen.
Dieses Mal landete Lily hart auf dem Rücken. Es fühlte sich an, als würde ihr alle Luft aus den Lungen gepresst. Ihre Büchertasche drückte sich schmerzhaft in ihre Seite, der Trageriemen schnürte sie ein. Die Welt wurde ganz schwarz und still. Nur dumpf hörte sie ein Rauschen. War das der Verkehr? Oder ihr Blut, das durch die Adern toste? Hinter ihren geschlossenen Lidern blitzten Lichter auf, gleißend hell, wurden größer und größer, bis sie Lily ganz verschlangen.
Lily riss keuchend die Augen auf.
Sie blickte einem Fremden ins Gesicht. Er beugte sich über sie, bohrte seinen stahlblauen Blick in ihren und bewegte die Lippen.
Lily holte erneut Atem. Und einfach so rutschte die Welt zurück in den Fokus, funktionierte der Ton wieder.
„Kannst du mich hören?“, fragte der Fremde eindringlich. „Kannst du mich verstehen?“
Sie nickte, wollte sich aufsetzen, aber er hielt sie zu fest. Lily stieß einen erstickten Laut aus und begann, sich gegen seinen Griff zu sträuben.
„Langsam“, sagte er beunruhigt. „Vorsichtig. Vielleicht hast du dir was getan.“
Lily zog die Oberlippe zurück und fauchte.
Er hob eine dunkle Augenbraue. Aber er sagte nur: „Ich tu dir ja nichts. Du bist in Sicherheit.“
„Gray“, flüsterte sie und krallte eine Hand in seinen Mantelaufschlag. „Grayson.“
Er verstand sie sofort. Hob den Kopf und rief: „Grayson? Ist hier ein Gray?“
Jetzt erst, als er sich abwandte, sah Lily die Menge, die sich um sie drängte, all die Gesichter, die zu ihr hinunterstarrten, während sie da auf dem Bürgersteig lag. Lily fühlte sich ausgeliefert und versuchte erneut, sich aufzurichten. Dieses Mal half ihr Retter ihr hoch. Lily spürte, wie
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