Elfenschwestern
der Arm, der sie hielt, sich spannte und sie stützte, als sie sich aufsetzte. Die Welt schien ein wenig zu schwanken, hielt dann aber still.
Doch es war nicht genügend Platz in ihr, fand Lily. Sie merkte, wie ihr Pulsschlag sich beschleunigte. All diese Hosenbeine und Wintermäntel um sie herum wuchsen in die Höhe wie winterkahle Bäume, verdunkelten den Himmel, blendeten das Licht der Großstadt aus. Rückten näher. Etwas streifte ihren Rücken, jemand stieß gegen ihren Ellenbogen.
Schutz suchend wie ein verwundetes Tier drängte Lily sich an den jungen Mann mit den stahlblauen Augen. Sie krümmte sich an seiner Schulter zusammen, kämpfte gegen den Schwindel und schrie innerlich: Gray, Gray, Gray!
Er legte auch noch den anderen Arm um sie.
„Macht Platz“, rief er wütend. Lily spürte, wie seine Stimme seine Brust vibrieren ließ. „Bewegt euch, sie kriegt ja kaum Luft.“
„Man sollte eben doch einen Krankenwagen rufen“, sagte ein älterer Herr, der direkt neben ihnen stand.
„Und die Polizei“, rief eine Frau.
„Nein“, sagte Lilys Retter grimmig. „Die braucht sie nicht.“
Der Gentleman protestierte. Aber der mit dem Stahlblick ignorierte sie alle.
„Grayson“, flüsterte Lily in seinen Kragen. Die Angst um ihren Bruder lähmte sie. Wo war Gray?
Ein Wutgeheul erscholl irgendwo aus den Reihen der Umstehenden. Lilys Herzschlag setzte einmal aus. Bewegung kam in die Menge, als sie sich teilte, und plötzlich war da Gray, machte einen Satz und warf sich auf seine große Schwester.
Er riss sie fast um.
Doch obwohl die Wucht des Aufpralls ihr den Atem verschlug und ihr Brustkorb schmerzte, gelang es Lily, die Arme um ihren Bruder zu schlingen und dieses warme, zitternde Bündel fest an sich zu drücken. Erleichterung schlug über ihr zusammen. Er war da, sie war am Leben.
„Alles ist gut“, flüsterte Lily in Grays goldenes, von Angstschweiß feuchtes Haar. „Alles ist gut. Wirklich.“
Gray hob den Kopf und sah seine Schwester an. Sein Gesicht, stets blass, war jetzt so kreidebleich, dass es fast krank wirkte, seine Amethystaugen waren angstgeweitet.
„Warum weinst du dann, Tiger?“, fragte er.
Lily merkte erst, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen, als sie jemand mit sanften Fingern wegwischte.
„Es ist nur der Schock“, sagte der junge Mann mit dem Stahlblick zu Gray. „Mich hat sie auch zu Tode erschreckt.“
Lilys Retter kniete noch immer dicht neben ihr, die breiten Schultern ein Schild gegen die nun zögerlich zurückweichenden Passanten.
„Hey“, sagte er. „Kannst du aufstehen?“
Lily spürte, wie Gray den Atem anhielt. Verwehrte es sich, in sich hineinzuhorchen, drängte das taube Gefühl in ihrem Hinterkopf, das Brennen der aufgeschlagenen Knie und aufgeschürften Handflächen an den Rand ihres Bewusstseins. Und nickte.
„Alles klar. Dann lass uns von hier verschwinden.“
Er umfasste Lilys Oberarme und zog sie ohne Umstände mit sich auf die Füße. Fest schloss er die Finger um ihren linken Ellenbogen. Zu Gray sagte er: „Du gehst auf die andere Seite.“
Gray stand da, die Fäuste geballt, die Locken an seinen Schläfen klebend, und rührte sich nicht.
Der junge Mann seufzte. „Grayson, es freut mich, dich kennenzulernen. Ich heiße Jolyon. Deine Schwester könnte ein paar Pflaster brauchen. Okay?“
Gray fixierte ihn noch einen Moment, dann ließ die Spannung in seinen Schultern nach.
„Können wir?“, fragte Jolyon.
Bruder und Schwester sahen sich an, tauschten eine stumme Botschaft.
„Wir können“, antwortete Lily. Sie streifte ihre vom Asphalt völlig zerrissenen Wollhandschuhe ab und griff nach Gray. Seine Hand umklammerte ihre, sein Fäustling lag wohltuend kühl auf ihrer zerschrammten Haut.
So überquerten sie endlich die Straße.
2
To be her knight … ~ Dass ich ihr Ritter werd …
Im grünschwarzen Dunkel der Tanne hingen gläserne Rehkitze im Tiffany-Stil. Sie waren türkisfarben, einige matt gebürstet, andere auf Hochglanz poliert, eigens vom Juwelier für das Somerset House geschaffen. Winzige elektrische Lichter, Sterne im Nadelwald, ließen das glatte, künstliche Fell glänzen. Wie sie bedächtig einen Huf vor den anderen setzten, so als ob sie sich gerade aus schützendem Dickicht wagten, wirkten die langbeinigen Geschöpfe erschreckend lebensecht, fand Lily.
Tut es nicht!, dachte sie. Wer weiß, was hier draußen auf euch wartet.
Gray stand neben ihr, den Kopf weit in den Nacken gelegt. Die mit
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