Elfenwinter
eure Vergangenheit wird von euch abfallen wie welke Schlangenhaut, wenn ihr es denn wollt. Vielleicht erwartet uns jenseits des Tores Finsternis. Vielleicht gelangen wir mit einem einzigen Schritt in die Slanga-Berge. Wenn ihr vor euch einen goldenen Pfad seht, dann folgt ihm und weicht nicht mal um ein Haarbreit von ihm ab, sonst werdet ihr auf immer im Dunkel verloren sein. Und wenn euch nun der Mut sinkt und ihr Angst habt vor dem letzten Schritt, so grämt euch nicht. Jeder, der hier auf diesem Felsen mit mir steht, ist ein Held. Denkt an die Geschichten der Skalden, an die ruhmreichen Recken vergangener Zeiten. Ihr alle seid mir bis an den Rand der Welt gefolgt. Und selbst von den kühnsten Kriegern des Fjordlands hat es vor euch nur eine Hand voll gewagt, so weit zu gehen. Ganz gleich, ob ihr Fischer, Händler oder Fährleute seid: Ihr steht den Helden der Vergangenheit in nichts nach. Schon jetzt habt ihr euren Platz in den Liedern, die dereinst in den Hallen der Könige gesungen werden. Ich verneige mein Haupt vor euch und bin stolz, an eurer Seite zu sein.«
Der Herzog verneigte sich tatsächlich. Eine Böe blies ihm sein langes Haar ins Gesicht, als er sich wieder aufrichtete. Wilde Entschlossenheit spiegelte sich in seinem Antlitz. »Asla, ich liebe dich, und ich werde zu dir zurückkehren, ganz gleich, was auch geschehen mag.« Er sagte das in einem ruhigen, feierlichen Tonfall, so als lege er einen Eid ab. Dann wandte der Herzog sich um, und mit einem Schritt verschwand er in dem gleißenden Licht.
Lysilla trat an Ollowains Seite. Sie lächelte spöttisch und sprach ihn in der Sprache ihres Volkes an. »Ein wenig pathetisch, diese Menschen.«
»Verlangen große Gefühle nicht auch nach großen Gesten?« Der Schwertmeister hielt ihren Blick einen Moment lang gefangen. Er lächelte nicht. Dann sah er hinüber zu Silwyna. Ollo-wain wusste, dass die letzten Worte des Herzogs ebenso sehr ihr gegolten hatten wie Asla. Doch das Gesicht der Jägerin zeigte keine Regung.
AUF DER SCHWELLE
Vahelmin wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit Skangas Blutmagie ihn in eine ihr hörige Bestie verwandelt hatte. Tage, Wochen oder vielleicht doch nur Stunden? Im Nichts gab es kein Maß für das Verstreichen der Zeit.
Manchmal hoffte Vahelmin plötzlich zu erwachen, um zu sehen, dass all dies nur ein schrecklicher Traum war. Aber da war diese andere Kreatur… Der Quell der dunklen Gedanken. Dieses Geschöpf war tief in ihm. Was immer er dachte, es hatte seinen Anteil daran. Wenn er hoffte, bald zu erwachen, konnte er fühlen, wie sich die Bestie in ihm regte, um sich in Erinnerung zu bringen und all seine Träume Asche werden zu lassen. Jegliche Gedanken der dunklen Kreatur drehten sich um Licht. Und doch schrak sie vor den goldenen Pfaden zurück, die sich in weiten Abständen durch das Nichts zogen. Vahelmin hatte der Bestie mühsam beibringen müssen, dass sie diese Pfade nun begehen konnten, dass der Bann, der die anderen Geschöpfe der Dunkelheit von den Albenpfaden fern hielt, für sie nicht mehr galt.
Dafür lehrte die Bestie ihn, wie man sich im Nichts bewegte. Hier gab es kein Oben oder Unten, keinen sicheren Grund, über den man schritt. Vom ersten Augenblick an hatte Vahelmin im Nichts das Gefühl gehabt zu fallen. Ein endloser Sturz in einen bodenlosen Abgrund…
Und die Kreatur in ihm hatte sich an seiner Angst erfreut. Das Nichts war eine Welt ohne Licht, ohne Gerüche, ohne Wind, den man auf der Haut spürte. Sie war schrecklicher als jeder Kerker, denn man war eingesperrt mit sich und seinen Gefühlen, ohne dass es einen Sinneseindruck gab, der einen auch nur einen Herzschlag lang ablenkte. An diesem Ort war es ein Fest, sich an der Angst eines anderen zu laben. Die Kreatur ließ ihn die Grenze zum Wahnsinn erreichen. Vielleicht hatte er sie sogar überschritten… Dann erst lehrte sein dunkler Bruder ihn, sich zu bewegen. Das heißt, zuallererst versuchte das Wesen, ihm begreiflich zu machen, dass er nicht stürzte. In einer Welt ohne Horizont, ohne Landmarken, an denen man sich orientieren konnte, ohne Berge und Täler gab es auch keinen Boden, auf dem man jemals hätte aufschlagen können. Er stürzte nur in seiner Vorstellung, weil es nichts gab, an dem er seinen Standort in der Welt verankern konnte.
Seit Vahelmin das begriffen hatte, vermochte er seine Angst zu überwinden. Er lernte, sich Kraft seiner Gedanken zu bewegen. Das Netz der Albenpfade gab dem Nichts eine Struktur. Es schuf
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