Elfenzeit 1: Der Hauch der Anderswelt - Schartz, S: Elfenzeit 1: Der Hauch der Anderswelt
Torhüter schlief in sich zusammengeringelt davor, scheinbar friedlich und harmlos wie ein treuer Hund. Der Elfenprinz ging neben ihm in die Hocke, jederzeit bereit zur Flucht, schob eine Hand unter das schuppige Kinn des Torwächters und kitzelte ihn sacht, wobei er leise Koseworte murmelte.
Der Drache grunzte, die Augen noch geschlossen, und schmatzte laut. Aus seinen Nüstern quollen kleine Dampfwölkchen. Dafydd setzte das Kraulen fort, und schließlich öffnete der Torhüter gähnend den Rachen.
Dies war das Signal; gleichzeitig sprang der Riegel zur Tür auf, und die Flügel schwangen auf und gaben den Blick frei ins Innere. Selbst hier lagen überall welke Blätter, das hereinfallende Licht wirkte krank und fahl.
Auf der königlichen Ruhestätte lag Fanmór, König der Sidhe Crain, des Volks vom Baum. Der Älteste von Earrach – und nach wie vor ein Riese, wie es nur wenige gab. Sein Atem erfüllte den Raum. Selbst im Schlaf wirkte er einschüchternd auf die Zwillinge, die ihn ebenso fürchteten wie jeder andere der Sippe, obwohl sie seine Kinder waren. Bebend näherten sie sich dem Vater, Hand in Hand, als ob sie gegenseitig Schutz suchten.
Dafydd blickte durch das astverschlungene Fenster auf das siechende Land. »Vielleicht sollten wir einen anderen bitten«, sagte er zögernd.
»Es ist
unsere
Pflicht, Bruder«, widersprach Rhiannon. »Und ich habe keine Angst. Ich weiß, er liebt meinen Gesang.« Sie begann zart zu flöten und zu trällern wie die Nachtigall. Mit heller Stimme sang sie das Morgenlied; dessen erste Strophe setzte kurz vor der Dämmerung ein, wenn die Sterne verblassten und der erste Silberstreif am Horizont erschien.
Obwohl keine messbare Zeit in der Anderswelt verstrich, gab es den Verlauf von Tag und Nacht. Die Elfen schätzten ausgelassene Feste mit Musik und Tanz bei Mondenschein, flackernden Fackeln und taumelnden Glühwürmchenlichtern. Für die Liebe, wie Menschen sie kannten, hatten Elfen nicht viel übrig, aber Romantik besaß einen hohen Stellenwert.
Nach einer Weile stimmte Dafydd harmonisch in Rhiannons Gesang ein. Sie waren bereits bei der Strophe des Vormittagszeremoniells angekommen, als Fanmór sich endlich regte.
Er drehte sich um und fing an zu schnarchen, dass der ganze Baum bebte, und der Laubfall beschleunigte sich. Den Geschwistern wollte schon der Mut sinken, als ein herabrieselndes Blatt die königliche Stirn streifte. Der Riese erwachte augenblicklich.
Die Zwillinge verstummten, hielten sich fester an den Händen und wichen unwillkürlich einen Schritt zurück, Richtung Tür. Inzwischen war auch der Drache erwacht. Mit funkelnden Augen und leise zischend kauerte er vor dem Eingang. Er schien nicht darüber erbaut, überlistet worden zu sein.
Zitternd beobachteten Prinz und Prinzessin den Vater, während er sich langsam aufrichtete. Trockenes Laub fiel von seinen mächtigen Schultern raschelnd zu Boden. Selbst im Sitzen überragte Fanmór seine Kinder um Haupteslänge. Er beachtete Sohn und Tochter allerdings zunächst nicht, sondern blickte fassungslos auf die Verwüstung um sich. Er wurde nicht zornig über die unerlaubte Störung. Was er sah, war viel zu ernst und selbst für ihn erschreckend.
Schließlich richtete der König langsam seinen Blick, glutschwarz wie ein glimmendes Kohlenbecken, auf seine Nachkommen.
Dafydd schluckte und streckte nervös den Zeigefinger aus, richtete ihn auf die mehr als meterlange Flut schwarzbraunen Haares, das über Fanmórs Brust fiel. »V… Vater«, stieß er blass hervor. »Euer Haar … es ist eine weiße Strähne darin …«
1 Paris im Herbst
Als Nadja Oreso zum ersten Mal den huschenden Schatten sah, dachte sie sich nichts dabei. Der September war in Paris angekommen, da wurden die Schatten länger und die romantischen Impressionen intensiver. Die Sonne färbte das Laub der Stadtbäume bunt, Ginkgo, Ahorn, Birke und Buche, und ließ den staubigen Dreck des vergangenen Touristensommers vergessen, ebenso die mörderische Hitze, die in den engen Straßen monatelang gefangen gewesen war.
Nadja liebte diese leicht morbide Stimmung dieser Stadt, wenn der Sommer noch nicht ganz vergangen war, das allmähliche Dahinsiechen des Jahres sich aber schon deutlich bemerkbar machte.
Die hektischen Touristenströme waren aus dem von der Périphérique umgebenen Stadtzentrum hinausgeschwappt, und die Pariser kehrten aus der Übersommerung in der Provence, der Bretagne oder an der Côte d’Azur wieder zurück. Die
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