Elfenzeit 1: Der Hauch der Anderswelt - Schartz, S: Elfenzeit 1: Der Hauch der Anderswelt
arbeiten …«
Endlich traf der Notarzt ein, der nur einen kurzen Blick auf Boy X warf. In barschem Ton gab er den Sanitätern eine direkte Anweisung. »Überdosis, am besten in eine Suchtklinik …«
Wütend sprang Charles auf. »Das ist mein Bruder!«, brüllte er den Notarzt an. »Er hat Drogen noch nie angerührt! Nur, weil er Sänger ist und bewusstlos auf der Bühne liegt, heißt das noch lange nicht, dass er drogensüchtig oder alkoholkrank sein muss, Sie vorurteilsbehafteter, inkompetenter …«
Nadja hielt ihn zurück. »Schon gut«, sagte sie eindringlich. »Beruhige dich, Charles, wir bringen das in Ordnung. Ich mache das. Einverstanden?«
Charles brach in Tränen aus. Der Notarzt zog ein indigniertes Gesicht und blieb in abwesender Haltung stehen.
Nadja funkelte ihn wütend an. »Behandeln Sie ihn einfach wie einen plötzlichen ungeklärten Krankheitsfall. Den Drogentest machen Sie ohnehin, aber Boy gehört bis dahin auf eine Notfallstation, die auf ungewöhnliche Anfälle spezialisiert ist.« Sie deutete auf den Sänger. »Wenn der Junge wegen einer voreiligen Diagnose, die nur auf Vermutung basiert, falsch behandelt wird und stirbt, sind Sie dran! Dafür werde ich persönlich sorgen, so wahr ich Journalistin bin!«
Der Notarzt machte sich endlich an die Untersuchung. Sein Gesicht nahm einen zusehends besorgten Ausdruck an.
»Am besten, wir bringen ihn in eine Unfallklinik«, überlegte er, und Nadja atmete erleichtert auf. »Das Hôpital Robert Debré ist über die Périphérique in längstens zehn Minuten erreichbar, auch wenn es im Osten liegt. Aber zu dieser Zeit ist nicht viel Verkehr. Von dort aus sind wir in zwei Minuten am Boulevard Sérurier.« Er zog sein Handy aus der Tasche. »Ich werde uns anmelden. Also los!«
»Ich fahre mit, und zwar im Krankenwagen«, kündigte Charles an. »Sie werden sicher Fragen haben.«
»Na schön, kommen Sie.«
Robert zog den kleinen Stadtplan hervor und fing hektisch an zu suchen, während Boy X auf eine Trage gelegt und abtransportiert wurde. »Porte des Lilas«, wisperte er Nadja zu. »Nur einmal umsteigen. Komm schnell!«
In aller Eile verließen sie das Studio, ohne sich zu verabschieden – niemand hätte sich dafür interessiert –, und rannten zur Metro. Nadja stolperte einmal und wäre beinahe gestürzt; Robert fing sie gerade noch rechtzeitig auf.
»Lange Beine, schön und gut«, sagte er gutmütig. »Aber allmählich solltest du aus dem Alter raus sein, über deine eigenen Füße zu fallen.«
»Ich bin nicht …«, begann sie, doch er zog sie weiter.
Zwanzig Minuten später kamen die beiden Journalisten in der Klinik an. Sofort stürmten sie in die Notaufnahme, Nadja immer zwei Schritte vor Robert. Hier herrschte trotz der vorgerückten Stunde hektischer Betrieb. Am Aufnahmetresen drängelten sich die Leute, im Wartebereich waren sämtliche Plätze besetzt.
»Ich hasse es«, stieß Robert hervor. Er sah grau im Gesicht aus und hatte die Schultern hochgezogen. Ständig sah er sich nervös um wie jemand, der unter Klaustrophobie litt.
»Du hasst doch alles«, versuchte Nadja ihn zu trösten.
»Aber Kliniken ganz besonders, vor allem die Notaufnahmen«, knurrte er. Der Fotograf hatte die Kameras in die Tasche gesteckt und über die Schulter gehängt. So sah vielleicht nicht jeder auf Anhieb, dass er zur Presse gehörte.
Nadja blickte über die wartenden Patienten; es war kein bekanntes Gesicht darunter. Ihr geübter Blick registrierte schnell, dass viele blutende Verletzungen dabei waren, vor allem viele Frauen mit blauen Verfärbungen und Platzwunden im Gesicht. Andere hielten sich den Arm, atmeten röchelnd oder klammerten sich an eine Krücke.
Niemand unterhielt sich, alle hockten schweigend auf unbequemen Stühlen und starrten auf die Uhr. Als wären sie in der Zeit erstarrt, während um sie herum alles beschleunigt ging. So hörte sich auch das Stimmengeschwirr des Personals an, dazu kamen das unentwegte Klingeln von Telefonen und ständige Durchsagen.
Robert hatte recht, dieser Anblick war mehr als deprimierend. Nadja verspürte augenblicklich ein heftiges Ziehen im Rücken, der Arm pochte, im Kopf drohte sich dumpfer Schmerz an, und ihr Fuß zuckte nervös. In dieser Umgebung wurde man unweigerlich krank, selbst wenn man sich vorher fast unsterblich gefühlt hatte. Am nächsten Tag musste sie wahrscheinlich einen Arzt konsultieren, der irgendetwas ganz Schreckliches diagnostizierte, was schon seit langer Zeit tückisch in ihr
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