Elfenzeit 12: Ragnarök - Schartz, S: Elfenzeit 12: Ragnarök
betrunken genug bin, sie nicht aus meinem Bett zu schubsen.«
Nadja war zwischen Belustigung und Fassungslosigkeit hin- und hergerissen. Da er ohnehin die Rede darauf gebracht hatte, fragte sie unverblümt: »Und – warst du’s je?«
»Nein!« Ingolfir bog sich vor Lachen. »Aber es ist jedes Mal ein tolles Fest, ich muss keinen Finger dafür rühren! Und alle bemühen sich, mir gegenüber besonders nett zu sein, damit sie nicht ins Fettnäpfchen treten. Ich sage dir: Auf diesen Tag im Jahr freue ich mich am meisten!«
»Du …« Nadja drohte ihm mit dem Finger. »Du bist ein Schelm! Und zwar ein richtiger!«
»Du meinst, ein Scharfrichter?« Er grinste.
Sie war beeindruckt, dass er die ursprüngliche Bedeutung kannte. »Nein, ein Schalk! Allerdings … scharfzüngig bist du ja.«
»Schau, das erwarten sie doch von mir. Sie wären ja enttäuscht, wenn ich mich anders verhalten würde. Ich mache ihnen eine Freude!«
Nadja schüttelte den Kopf und schmunzelte. »Ich gehe jetzt zu Bett.«
»Gute Nacht. Du solltest die Vorhänge zuziehen; es ist noch recht hell draußen, und wer weiß, wer alles hereinschaut.«
»Wo schlafen die eigentlich alle?« Nadja deutete auf die lärmenden Gäste. Jónína tanzte gerade mit dem jungen Árni, während die Umstehenden klatschend den Takt vorgaben.
»Hier in der Scheune«, antwortete Ingolfir vergnügt.
»Auch Sigriður Heida?«
»Na sicher. Ich habe im hinteren Abteil, in den alten Boxen, ein paar Feldbetten aufgestellt, wo es sich die ältere Generation gemütlich machen kann. Morgen im Laufe des Tages, wenn sie alle Reste vernichtet haben, werden sie weiterziehen. So ist das bei uns in Austurland.« Ingolfir zückte seine Pfeife, die er vorn am Latz seiner Hose stecken hatte – er hatte sich nämlich nicht umgezogen –, und stopfte sie.
»Vielen Dank für alles«, sagte Nadja, stellte sich auf die Zehenspitzen und zog seinen Kopf leicht zu sich herab, damit sie ihm einen Kuss auf die Wange geben konnte. Sie mochte diesen bodenständigen, raubeinigen Mann mit dem tiefen Schalk in den hellwachen Augen. In die Runde rief sie laut: »Bless! Tschüs!« und verließ lachend die Scheune.
Draußen empfing sie ein seltsames Zwielicht, das so gut wie keine Schatten zuließ. Die Farben waren völlig verfälscht. Zuletzt hatte Nadja einen so seltsamen Eindruck gehabt, als sie 1999 zusammen mit ihrem Vater die totale Sonnenfinsternis beobachtet hatte.
Nicht einmal die Anderswelt wirkte derart bizarr auf sie. Sie schloss die Jacke, denn es war empfindlich kalt geworden, wahrscheinlich unter zehn Grad. Kein Wunder, dass die Isländer sich drin mit Wodka aufwärmten, sonst erfroren sie womöglich in der Scheune. Obwohl es drin angenehm gewesen war, das musste sie einräumen.
Satt und zufrieden ging sie Richtung Haus. Zu wissen, dass die Scheune voller Menschen war, tröstete sie, denn die Stille draußen war unheimlich. Sie konnte zwar undeutlich grasende Schafe in der Nähe erkennen, aber keinen Laut von ihnen hören. Der Hund feierte mit in der Scheune. Aber auf den wenigen Metern brauchte sie keine Angst zu haben. Und falls der Getreue kam, konnte ihr sowieso niemand helfen.
Ich habe ihn nicht bestellt
, dachte sie energisch.
Der war im Lieferumfang nicht enthalten
.
Die Tür schimmerte in tröstlichem Blau, eingebettet in weiße Wände. Der Hof war wirklich sehr schön, allerdings sehr einsam gelegen. Die nächsten Nachbarn waren dreißig Kilometer entfernt. Wenn Ingolfir etwas passierte, kam wahrscheinlich jede Hilfe zu spät. Aber der Mann schien wirklich glücklich und zufrieden zu sein und niemanden zu vermissen. Wahrscheinlich redete er einfach mit dem Hund. Und den Schafen.
Von Nordwesten zog eine Wolkenbank herauf, die sich zusehends höher ballte. Also kam der angekündigte Sturm tatsächlich. Vielleicht mussten die Gäste länger auf
Melasól
ausharren. Nadja war heilfroh, einen geschützten und warmen Platz gefunden zu haben.
Alles schien friedlich zu sein. Sie sah sich noch einmal um und schlüpfte dann ins Haus.
Die Vorhänge zog sie allerdings gut zu: Sie wollte nicht wissen, wer da womöglich im ersten Stock hereinschaute.
5 Der Schrei nach Vergeltung
Der Hofstaat gab sich dem Müßiggang in der großen Halle hin. Blumen- und Seidenelfchen arbeiteten unaufhörlich auf ihre flinke, huschende Weise daran, den Verfall des Baums zu überdecken, indem sie künstliche Seiden- und Glasornamente drapierten, versehen mit glitzerndem Zauberstaub, der alles
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