Elfenzorn
einer schweren Truhe, die zusätzlich mit eisernen Bändern und einem beeindruckenden Vorhängeschloss gesichert war.
Vorsichtig und sich vergebens den Kopf darüber zerbrechend, ob sie in ihrem unsichtbaren Zustand eigentlich einen Schatten warf, richtete sie sich auf, wartete eine oder zwei Sekunden lang mit angehaltenem Atem darauf, die beiden Wachen hereinstürmen und sich verblüfft in dem leeren Zelt umblicken zu sehen, und sah schließlich ein, dass das wohl nicht geschehen würde. Sie behielt den Dolch in der Hand – man konnte schließlich nie wissen –, trat an den Tisch heran und betrachtete stirnrunzelnd das Sammelsurium aus Pergamenten und Karten, das die Platte aus sorgsam poliertem schwarzem Holz bedeckte. Das meiste waren wohl irgendwelche Listen und Aufstellungen – einige Briefe schienen auch darunter zu sein, die allesamt in einerverschnörkelten und ebenso wunderschön anzusehenden wie für sie vollkommen rätselhaften Handschrift ausgeführt waren. Dazu gab es einige in schweres Leder gebundene Bücher, die sie sich aufzuschlagen gar nicht erst die Mühe machte, weil sie garantiert in derselben Sprache geschrieben waren. Aber sie entdeckte auch etliche Karten, die ihr zumindest vage vertraute Umrisse und topografische Merkmale zeigten.
Wie es aussah, war sie wohl auf den Topf voller Gold am Ende des Regenbogens gestoßen. Die Frage war nicht, ob, sondern wie viel von alledem hier sie mitnahm, um es Eirann zu zeigen.
Dass sie nichts von alledem lesen konnte, stellte ein kleines Problem dar. Sie konnte sich Alicas Kommentar lebhaft vorstellen, wenn sie mit einem Arm voller Papier zurückkam und Eirann eine akribische Aufstellung von Tormans Vorräten an Pferdefutter und Verbandsmull präsentierte, anstelle seiner genauen Angriffspläne.
Aber was sprach eigentlich dagegen, alles mitzunehmen?
Die Bücher kamen natürlich nicht infrage – Pia nahm auch an, dass sie in diesem Zusammenhang von geringerer Wichtigkeit waren –, aber die Pergamente und Karten ließen sich sicher zu einem halbwegs transportablen Bündel zusammenrollen.
Sie sah sich nach etwas um, womit sie es zusammenbinden konnte, fand nichts und schnitt schließlich einen passenden Streifen aus der Zeltbahn, wo sie hereingekommen war. Nachdem sie den Dolch wieder unter den Gürtel geschoben hatte, trat sie an den Tisch, raffte alles, was irgendwie wichtig aussah, zusammen und rollte es mit einiger Anstrengung zu etwas, was in ihren Augen verdächtige Ähnlichkeit mit einer nicht ganz fertiggestellten altägyptischen Mumie hatte und auch ungefähr genauso schwer war. Sie würde jeden einzelnen Knochen im Leib spüren, wenn sie dieses Ding bis zu ihrem Versteck zurückgeschleppt hatte, wo Flammenhuf auf sie wartete. Und es das ganze Stück bis nach Chichen Itza zu transportieren, würde sich wahrscheinlich als schierer Albtraum erweisen.
Trotzdem konnte sie sich ein dünnes Grinsen nicht mehr ganz verkneifen, während sie die schwere Papierrolle auf ihre Schulter wuchtete und in eine halbwegs bequeme Position zu bugsieren versuchte. Sie hätte einiges darum gegeben, Schwert Tormans Gesicht zu sehen, wenn er hier hereinkam und sich vergeblich fragte, wo eigentlich all seine schönen Invasionspläne geblieben waren.
Pia gestattete sich ein weiteres, noch deutlich breiteres Grinsen, drehte sich um, und ihr Wunsch ging in Erfüllung, denn Schwert Torman stand keine zwei Meter hinter ihr und sah sie an.
Es dauerte eine geschlagene Sekunde, bis ihr klar wurde, dass er nicht nur rein zufällig oder ungefähr in ihre Richtung sah. Er sah ihr direkt in die Augen. Er sah sie . Und er wirkte nicht einmal über die Maßen überrascht oder gar erschrocken. Allenfalls ein wenig verwirrt.
Pia überwand endlich ihren Schrecken und machte einen Schritt zur Seite, und Tormans Blick folgte ihr getreulich. »Prinzessin Gaylen«, sagte er. »Was für eine Überraschung … aber was tut Ihr da?«
Pia war viel zu fassungslos, um zu antworten ... oder um seine Worte auch nur zu verstehen, wenn sie ehrlich war. Wieso sah er sie? Was ... was f iel ihm ein , sie zu sehen ?
»Prinzessin?«, fragte Torman. Seine Hand lag auf dem Schwertgriff, aber es sah eher aus wie eine Geste der Gewohnheit, nicht wie eine Drohung.
Also gut, irgendwie sah er sie. Das war zwar unmöglich, aber es war so, und die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, hatte noch nie sonderlich viel genutzt. Pia machte ein gebührend zerknirschtes Gesicht, setzte zu einer Antwort
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