Elfenzorn
er ihr nach ihrer Rückkehr die Standpauke halten wollte, mit der sie fest rechnete, und eine Menge Zeit mitbringen, denn Schild Eirann würde ihm ganz bestimmt zuvorkommen, und Pia war alles andere als sicher, dass er es nur bei ein paar groben Worten belassen würde. Aber gleich, wie sehr Alica und er auch schäumen würden, letzten Endes würden sie froh sein, dass sie ihre Anweisung missachtet hatte und nicht sofort nach Chichen Itza zurückgekehrt, sondern geblieben war, um sich das Heer aus Elfenborg ein wenig genauer anzusehen.
Wenn auch vielleicht nicht besonders glücklich über das, was sie entdeckt hatte.
Pia sah zum mindestens fünfzigsten Mal an diesem Tag nach Westen und starrte den roten Ball der Sonne an, der wie festgenagelt am Himmel stand. Sie hatte beschlossen, bis zum Einbruch der Dämmerung zu warten, bevor sie es wagte, das Lager zu betreten, was in der Theorie ebenso vernünftig wie einfach geklungen hatte ...
Aber dieser Nachmittag hatte einfach kein Ende genommen. Sie hatte das Gefühl, seit Tagen hier oben zu stehen und den Elbenkriegern dabei zuzusehen, wie sie ihr Lager aufschlugen, Feuerstellen und improvisierte Koppeln anlegten, Wachen postierten und Zelte festzurrten, und sie hatte vor allem das Gefühl, dass es jedes Mal mehr wurden, wenn sie hinsah.
Vielleicht war es nicht einmal so falsch. Durch ihren schrecklichen Fund am Fluss noch vorsichtiger geworden, hatte sie Tormans Heer in einem respektvollen Bogen umflogen und sich an einer der wenigen Stellen auf die Lauer gelegt, die ihr geeignet erschienen war, ein Lager für ein so großes Heer aufzunehmen.
Ihre Rechnung war aufgegangen: Vielleicht eine Stunde später (die ihr wie zehn vorgekommen war) war die Spitze desHeereszugs auf die Lichtung herausgeritten, eine Sechserreihe gewaltiger Krieger auf nicht minder gewaltigen Schlachtrössern, der eine zweite folgte und eine dritte und eine weitere und noch eine und noch eine und immer nur noch mehr und mehr, und Pia hatte ihre Schätzung, was die Größe dieses Heeres anging mindestens ein halbes Dutzend Mal nach oben korrigiert und es schließlich aufgegeben. Es waren Tausende. Viele Tausende. Das war keine kleine Einheit, die gekommen war, um irgendwelche Städte an der Küste zu schützen, von deren Existenz sie heute Morgen noch nicht einmal etwas gewusst hatte, sondern ein gewaltiges Heer, das gekommen war, um zu erobern.
Und sie musste herausfinden, was.
Wenn sie nicht an Altersschwäche starb, bevor dieser verdammte Tag zu Ende war, hieß das.
Pia sah erneut zur Sonne hoch, stellte fest, dass sie sich keinen Millimeter von der Stelle gerührt hatte, seit sie es das letzte Mal getan hatte, und kam zu einem Entschluss. Man konnte nicht auf Erfolg hoffen, wenn man nicht bereit war, auch ein gewisses Risiko einzugehen.
Das sich ja überdies auch in Grenzen hielt.
Sie begutachtete noch einmal die Sonne – sie hatte sich immer noch nicht gerührt, was erstaunlich war, immerhin war es doch schon ganze fünf Sekunden her, dass sie das letzte Mal hingesehen hatte – und machte sich dann auf den Weg den kleinen Hügel hinab, auf dessen Kuppe sie schon vor Stunden Stellung bezogen hatte. Schon auf halbem Wege wechselte sie in die Welt der Schatten, wodurch sie selbst für die Augen des aufmerksamsten Postens unsichtbar wurde, blieb aber trotzdem auf der Hut und hielt schließlich noch einmal an und wartete auf die Dämmerung, so schwer es ihr auch fiel. Eingehüllt in einen Mantel aus unsichtbar machenden Schatten hätte sie keine Entdeckung fürchten brauchen und einfach in das Lager hineinspazieren können, ohne gesehen zu werden, aber irgendetwas warnte sie davor.
Allzu lange musste sie sich auch nicht mehr gedulden. DieDämmerung brach mit der für diese Breiten üblichen Schnelligkeit herein, und mit dem Tageslicht verschwand auch beinahe sofort die Wärme. Sie klapperte nicht unbedingt mit den Zähnen, bekam aber fast sofort eine Gänsehaut, und als wäre das allein noch nicht unangenehm genug, wurde es auch nicht richtig dunkel. Selbstverständlich stand am Himmel ein nahezu perfekt gerundeter Vollmond, und genauso selbstverständlich war die Nacht ebenso wolkenlos wie sternenklar, sodass das Licht im Grunde nur seine Farbe zu ändern schien, ohne nennenswert schwächer zu werden. Dafür war die Anzahl der Wachen mindestens doppelt so groß, wie ihr angemessen schien, und mindestens zehnmal so groß, wie sie gehofft hatte. Selbst unsichtbar würde es nicht leicht
Weitere Kostenlose Bücher