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Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Titel: Elia Contini 03 - Das Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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Häusern in der Erde. Irgendwo hämmerte der Schmied ein glühendes Eisen, eine Frau fegte den gepflasterten Platz vor ihrem Haus, und ein Duft nach Gemüsesuppe wehte durchs Dorf. Contini lauschte mit geschlossenen Augen und suchte das untergegangene Leben zurückzuholen.
    Jetzt verfielen die Mauern zusehends, und die Erde verschlang die Trümmer. Unter dem Klammergriff der Kletterpflanzen zerbröselte der Stein. Manchmal, wenn er herkam, betrat Contini die Ruine eines Hauses und stand dann einfach nur schweigend da. Von den Wurzeln der Buchen hatten die Wände Risse bekommen, Haselnussstauden streckten ihre Zweige durch leere Fensterhöhlen. Man meinte förmlich zu spüren, wie der Wald vorrückte, wie die Bäume sich verlorenes Terrain zurückeroberten.
    Contini wartete ein paar Minuten, um sich zu vergewissern, dass er allein war. Dann stieg er den Hang hinauf und umrundete das Kirchlein in einem großen Bogen. Vor ein paar Jahren war es restauriert worden, und einmal im Jahr fand hier zu Ehren seines Schutzpatrons, des hl. Rochus, eine Messe mit anschließendem gemeinschaftlichem Essen statt.
    Contini schlich sich leise durchs Unterholz an. Dann stürzte er mit einem Satz aus dem Dickicht auf die Mauer der Kirche zu, war mit zwei Schritten an der Tür der Sakristei und drückte auf die Klinke. Die Tür schrammte über den Boden, Contini trat ein. In den muffigen Geruch mischte sich ein Hauch Weihrauch und Wachs wie eine Erinnerung aus ferner Vergangenheit. Sekundenlang verharrte er, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Und kaum hatte er den ersten Schritt getan, kam von der anderen Seite her ein Geräusch. Sieh an, da war sie ja. Er rannte durchs Kirchenschiff.
    Das Mädchen war am Haupttor und versuchte es von innen zu öffnen. Die Hände beschwichtigend erhoben, trat Contini näher. »Hey«, sagte er.
    Das Mädchen drehte sich langsam um, gab aber keine Antwort.
    »Nur die Ruhe«, sagte Contini. »Alles gut.«
    Das Mädchen, das ihm wie ein in die Enge getriebenes wildes Tier vorkam, schien sich ein wenig zu beruhigen; es ließ ihn näher kommen. Bemüht, abrupte Gesten zu vermeiden, streckte er eine Hand aus und sagte: »Natalia Rocchi, nehme ich an.«

DRITTER TEIL
Schweigen

1
Eine Wand aus Eis
    »Man muss den Willen des Mädchens berücksichtigen«, sagte Bonetti.
    »Aber wenn sie nichts mitteilen kann«, entgegnete De Marchi.
    »Sie kann nicht reden «, korrigierte Bonetti. »Das ist was anderes.«
    Sie waren in Corvesco, im Haus der Familie Canova. Richter Bonetti und Kommissär De Marchi saßen auf Gartenstühlen, während Contini in einer Zimmerecke stand und zum Fenster hinausblickte. Es herrschte eine deutliche Spannung im Raum, auch eine gewisse Beklommenheit, ähnlich wie das bange Gefühl, das einen vor Unerklärlichem erfasst.
    De Marchi wechselte das Ziel und wandte sich an Contini. »Sie haben uns noch gar nichts gesagt.«
    »Ich habe Sie herbestellt.«
    »Als das Mädchen bereits hier war. Drei Stunden später.«
    Natalia war tatsächlich mit ihm gegangen. Er hatte sie gefragt: Willst du mitkommen? Sie hatte zwar keine Antwort gegeben, war aber halb neben, halb hinter ihm her durch den Wald bis zum Haus der Canovas mit ihm abgestiegen. Contini hatte es für das Beste gehalten, sie hierherzubringen, wo jemand war, der sich ihrer annehmen konnte. Marta Canova, die Hausherrin, hatte ihr ein heißes Bad einlaufen lassen, hatte ihr Kleider zum Wechseln gegeben und ihr zu essen und zu trinken gebracht. Beim Eintreffen der Polizei hatte Natalia zu verstehen gegeben, dass sie nicht die Absicht hatte, sich einen Schritt von der Stelle zu rühren. Als De Marchi ihr anbot, sie nach Lugano und nach Hause zu bringen, hatte Natalia mit panischem Blick wild den Kopf geschüttelt.
    Und jetzt saßen sie beisammen und versuchten sich zusammenzureimen, was passiert war.
    Denn Natalia sprach nicht.
    Sie sagte kein einziges Wort.
    Wenn sie etwas wollte, gelang es ihr, sich verständlich zu machen, aber sie sagte nichts, anscheinend konnte sie nicht einmal schreiben. Außerdem schien sie bestimmte Wörter und Wendungen nicht zu verstehen. Dr. Mankell, der Kollege ihres Vaters, war gerufen worden und untersuchte sie jetzt in einem Zimmer im ersten Stock.
    »Damit wir uns recht verstehen«, sagte De Marchi, »mir ist bewusst, dass die Situation delikat ist. Aber dieses Mädchen ist in einen Fall von Totschlag verwickelt, und ich bin meinen Vorgesetzten Rechenschaft schuldig. Ganz zu schweigen von den Medien …«

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