Elia Contini 03 - Das Verschwinden
aufgestanden, und wie sich alle drei um Mankell scharten, wirkten sie wie Schüler, die an den Lippen ihres Meisters hängen. Der Arzt aber, wenngleich er sich auf diesem Gebiet gut auskannte und seine Kenntnisse mit souveränem Stolz vortrug, hatte keine Gewissheiten anzubieten.
»Natalias Fall kompliziert sich durch eine Form von Aphasie sowie eine partielle Amnesie. Möglicherweise wird sie irgendwann das traumatische Ereignis in Form wiederkehrender Albträume erleben, auf jeden Fall dürfte sie in der nächsten Zeit erheblichen Stimmungsschwankungen unterworfen sein.«
»Wäre es da nicht besser, man behandelt sie im Spital?«, fragte De Marchi.
»Sie braucht jedenfalls Hilfe«, erklärte Mankell. »Aber nicht unbedingt eine stationäre Behandlung. Eine familiäre Umgebung, die Anwesenheit von Menschen, zu denen sie Vertrauen fasst, kann sehr viel bewirken. Gleichzeitig sollte eine psychotherapeutische Intervention beginnen, die den Schwerpunkt speziell auf die Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses legt. Und eine Logopädie, die ihr hilft, das Sprechen wieder zu lernen.«
»Aber wenn sie sich doch nicht erinnert!«, entgegnete Bonetti.
»Tja.« Mankell seufzte und ließ sich auf einen der Stühle sinken. »Das ist ein Problem. Die Erkrankung hat akut begonnen, kann sich aber im weiteren Verlauf sehr wohl zu einer chronischen Störung entwickeln. Dem soll die Therapie eben vorbeugen.«
»Wie muss man sich das vorstellen?«, drängte Bonetti. »Wird sie ihr Gedächtnis wiederfinden? Und wieder sprechen lernen?«
»Das weiß ich nicht.« Mankell nahm seine Brille ab. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich das überhaupt nicht sagen.«
»Und was können Sie als ihr Hausarzt tun?«
»Ich werde auf jeden Fall dafür sorgen, dass die nötigen Untersuchungen gemacht werden, und ihr bei der Suche nach einem geeigneten Psychotherapeuten helfen. Außerdem gibt es Medikamente, die sie unterstützend einnehmen kann, wie Paroxetin oder Sertralin, aber damit sollte man vorläufig besser noch warten. Wenn sie einen Schock erlitten hat und wenn infolge der Kopfverletzung tatsächlich auch ein physisches Trauma vorliegt … Kurzum, das klinische Syndrom ist komplex.«
»Keine Frage«, bemerkte De Marchi. »Und dass sie nicht redet, ist das normal?«
»Nein, das ist ein eher ungewöhnliches Symptom. Natürlich kann die Aphasie eine Folge der Verdrängung sein. Im Allgemeinen sind Sprachstörungen die Folge eines Schädel-Hirn-Traumas. Natürlich, wenn eine Läsion der linken Gehirnhälfte vorliegt … Zur Abklärung muss auf jeden Fall ein CT gemacht werden.«
»Gibt es Therapien bei Aphasie?«, fragte Bonetti.
»Tja …« Vor dem unermesslich weiten Feld dieser Erkrankung schien Mankell zu verzagen. »Auf jeden Fall schadet es nicht, die Hilfe eines Logopäden in Anspruch zu nehmen.«
»Das heißt?«
»Natalia muss das Sprechen wieder neu lernen.«
»Ja, geht das denn?«
»Sagen wir so: Natalia hat sich infolge des Schocks oder auch eines physischen Traumas von der Welt abgeschottet und verweigert den Kontakt. Nicht vollständig, aber in weiten Teilen. Es ist, als sei sie hinter einer Wand aus Eis eingeschlossen. Mit der Zeit und der richtigen Temperatur wird das Eis schon tauen … Aber jemand muss eine Möglichkeit finden, um es zum Schmelzen zu bringen, verstehen Sie?«
Für eine Weile schwiegen sie alle – wie um nachzufühlen, wie es Natalia ging. Dann fragte Contini: »Kann ich das Mädchen sehen?«
»Sie schläft«, antwortete Mankell.
»Ich will nur einen Blick auf sie werfen.«
Mankell blickte zu De Marchi, dann zu Bonetti, der nickte. Mit einer Kopfbewegung forderte er Contini auf, ihm zu folgen. Sie stiegen die Treppe hinauf und gingen durch einen kurzen Flur bis zu einer Tür, die Mankell einen Spalt weit öffnete.
Natalia lag im Bett. Sie schlief, das Gesicht zur Decke gewandt, den Mund geschlossen. Ihr Atem ging ruhig.
Contini beobachtete sie ein paar Sekunden lang.
Natalia hörte die Tür sich schließen. Langsam öffnete sie ein Augenlid. Im Zimmer war es ganz still und friedlich. Der Mann, der sie in der Kirche gefunden hatte, hieß Contini. Sie kannte ihn vom Sehen: Dieses kantige Gesicht, diese bedächtige Art – daran erinnerte sie sich. Sie war ihm ab und zu in Corvesco begegnet. Sie wusste, dass er als etwas verschroben galt. War er nicht Forscher – oder wie das hieß?
Peter Mankell hatte sie untersucht. Es wird alles wieder gut, du wirst sehen, hatte er gesagt, doch
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