Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Was meinen Sie?«
»Warum erzählen Sie mir nicht alles in Ruhe?«, fragte Contini.
Also begann Signor Canova noch einmal von vorn. Giovanni habe – eigentlich mehr zum Spaß – das Mädchen gefragt, ob sie diejenige mit der ermordeten Mutter sei. Zuerst habe er gedacht, sie ziere sich, weil sie nichts sagte. Aber dann seien ihm Zweifel gekommen. Und tags drauf habe er in der Zeitung das Foto gesehen und sie erkannt und ihm, seinem Vater, alles erzählt. Gemeinsam hätten sie die Verschwundene im Wald gesucht, aber ohne Erfolg.
»Und Sie sind nicht sicher?«, fragte Contini am Ende der Geschichte.
»Sie wissen doch, wie die jungen Leute sind. Warum hält sich das Mädchen denn versteckt? Ich möchte nicht umsonst die Polizei alarmieren. Jetzt hat man mir gesagt, dass Sie sich in den Wäldern hier auskennen, und vielleicht können Sie uns ja helfen zu überprüfen … Kurz und gut, man sollte sich wohl vergewissern, ob sich dieses arme Mädchen tatsächlich hier irgendwo versteckt.«
Contini dachte an das Mail, das ihm Enzo Rocchi Wochen vor seinem Tod geschrieben hatte. Er dachte an die Anwesenheit von Commissario De Marchi in dem Haus, in dem Sonia Rocchi gestorben war. Und der Zettel, den er am Ufer des Tresalti gefunden hatte, fiel ihm wieder ein. Und er dachte daran, was ihm die Leute erzählt hatten, als er sie im Auftrag seines Chefs ausgehorcht hatte.
Es kam ihm fast vor, als ob Natalia irgendwo auf ihn wartete.
Francesca Besson saß auf einer Bank am Seeufer und las den jüngsten Roman von Anne Tyler.
Auch sie hätte ganz gut eine der Romanfiguren sein können: die Studentin, die sich mit einem Detektiv zusammentut und versucht, sein Leben zu ändern. Wie war es so weit mit ihr gekommen? Im Roman versucht Liam Pennywell mit sechzig Jahren alle Verbindungen mit seinem früheren Leben zu kappen und findet sich umzingelt von Exfrauen, Töchtern, Chaos.
Francesca hingegen ging vom anderen Extrem aus: Ihre Eltern waren tot, und Geschwister oder andere Verwandte hatte sie nicht.
Sie hatte Contini kennengelernt und wollte ihn nicht verlieren.
Touristinnen mit ausladenden Sonnenhüten zum Schutz ihrer bleichen Haut schlenderten gackernd und fotografierend die Seepromenade entlang bis zum Landesteg. Francesca blickte ihnen eine Weile nach, dann schloss sie die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. Sie saß gern lesend am See. Es brauchte nicht viel, um sich vom Plätschern des Wassers, den vorüberziehenden Stimmen der Passanten einlullen zu lassen, bis die Erdschwere von einem abfiel. Keine Termine mehr, keine Streitereien, keine Versprechen. Auch sie war auf der Flucht, wie die Protagonisten ihres Romans.
Sie steckte ein Lesezeichen zwischen die Seiten und legte das zugeklappte Buch neben sich auf die Bank. In ihrer Handtasche hatte sie eine Zeitung, einen Apfel, eine Flasche Wasser. Sie trank einen Schluck und sah zwei auf Inlineskates vorbeiflitzenden Kindern nach. Sie hatte immer in Locarno und immer in der Nähe des Bahnhofs gewohnt, und sie stellte sich gern vor, dass die Wege zum See ihr privater Hinterhof seien. Auch die Touristen kamen ihr vor wie Angehörige.
Sie überflog die Schlagzeilen. Immer noch diese Geschichte in Corvesco. Und wieder musste sie an Contini denken: Sie kannte ihn gut, und sie war sicher, dass er es nicht fertigbrächte, sich herauszuhalten. Zwar beteuerte er ständig, er wolle ja nur seine Ruhe, aber Francesca wäre jede Wette eingegangen, dass er sich bereits umhörte und Fragen nach dieser armen Ermordeten stellte. Schließlich war die Sache in Corvesco passiert, seinem Revier – da fühlte er sich doch verpflichtet, sich einzumischen.
Contini fühlte sich immer zu allem Möglichen verpflichtet, aber warum er so tat, als hätte er keine Gefühle, war ihr ein Rätsel. Vielleicht war ihm auch gar nicht bewusst, dass er Gefühle hatte. Francesca war überzeugt, dass er tief in seinem Inneren tatsächlich Qualitäten wie Neugier, Zärtlichkeit, Zuneigung besaß.
Vielleicht war dort sogar Platz für Liebe.
Vielleicht.
Aber diesmal war sie zu keinen Abstrichen mehr bereit. Entweder es war ihm ernst, oder sie trennten sich. Sie würde leiden, das war ihr klar, aber sie war keine Romanfigur, sie hatte keine Familie, vor der sie fliehen musste. Für Francesca war es Zeit, etwas aufzubauen.
Sie faltete die Zeitung zusammen und hoffte, dass Contini sich nicht in die Mordermittlungen hineinziehen ließ.
Das hätte gerade noch gefehlt.
8
Allein auf der Welt
Da war ein
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