Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Mann im Wald. Ein Stück oberhalb seines Hauses – Contini hatte ihn flüchtig gesehen. Er hatte dort oben schon Pilzsammler und verirrte Wanderer getroffen, aber diese dunkle, spähende Gestalt, die sich zwischen Ulmen und Walnussbäumen bewegte, schien ihm verdächtig und vage beunruhigend.
Für jeden Beobachter deutlich sichtbar, zog er einen weiten Bogen. Etwas weiter oben führte eine schmale Brücke über den Tresalti, und am anderen Ufer stand eine Kapelle mit einem Fresko, das dem Zahn der Zeit tapfer widerstand. Contini überquerte den Fluss, begab sich hinter die Kapelle und wartete.
Wenige Minuten später tauchte erwartungsgemäß die Gestalt auf der Brücke auf. Contini zündete sich eine Zigarette an und trat genau in dem Moment, als der Mann vorüberging, aus seinem Versteck, eine Hand an der Hutkrempe.
»Guten Morgen.«
Der Mann zuckte zusammen und blieb stehen.
»Oh … hallo! Haben Sie mich erschreckt!«
»Tut mir leid.«
»Ich kenne mich hier nicht aus.«
Mit seinen Lederschuhen, dem eng anliegenden T-Shirt, der leichten Sommerhose war der Mann nicht gerade passend für einen Waldspaziergang gekleidet. Sein Gesicht zierte ein kompliziertes Bartdesign aus Backen-, Kinn- und Oberlippenbehaarung. Contini streckte ihm forsch die Hand entgegen.
»Sehr erfreut. Contini.«
Der Mann drückte ihm überrascht die Hand und sagte nichts.
»Was hat Sie denn hierher verschlagen?«, erkundigte sich Contini.
»Ach, nichts. Ich bin nur ein bisschen gestresst, und in solchen Fällen komm ich ganz gern hier herauf und gehe ein paar Schritte in den Bergen.«
»Wenn Sie diesen Weg hier nehmen, kommen Sie zu dem verlassenen Dorf Valnedo.«
»Ach ja. Vielen Dank.«
»Bitte. Ich muss in die andere Richtung.«
Contini ging an ihm vorbei und über den Tresalti zurück.
»Von sieben bis fünfzehn sind es Kinder, von sechzehn bis achtzehn Jugendliche, von achtzehn bis fünfundzwanzig junge Erwachsene«, dozierte Commissario De Marchi. »Auch ich kenne das Gesetz.«
»Versteht sich«, nickte Rechtsanwalt Bossi. »Aber das Gesetz unterscheidet, ob ein Jugendlicher unter Anklage steht oder ob er lediglich Zeuge eines Verbrechens ist.«
»Sicher«, sagte De Marchi. »Aber das gilt ja für uns alle, oder?«
In Bossis Büro saß noch eine dritte Person, die einstweilen nur zuhörte. Brenno Bonetti war ein pragmatischer Mensch, dem nie etwas über die Lippen kam, das nicht dokumentiert oder dokumentierbar war. Er war Präsident der Regionalen Vormundschaftskommission 5 mit Sitz in Massagno. Vor Jahren war er zudem Jugendrichter gewesen und hatte viel mit Problemjugendlichen zu tun gehabt: höchst unterschiedliche Fälle je nach Verlauf und familiärer Situation, aber seine damaligen Jugendlichen waren immerhin fassbare Wesen. Jetzt redeten diese beiden über Natalias mögliche Beteiligung an der Ermordung der Mutter und über erforderliche Maßnahmen, um sie zu schützen und zu vernehmen. Dabei war dieses Kind unauffindbar.
Wie wollt ihr sie denn vernehmen, dachte Bonetti, wenn sie verschwunden ist?
»Meiner Ansicht nach greifen wir zu sehr vor«, sagte er zu dem Polizisten und dem Anwalt.
Die beiden drehten sich zu ihm um und betrachteten ihn mit einem gewissen Missfallen. Gleichwohl fragte der Anwalt mit gewohnter Liebenswürdigkeit: »Inwiefern, Signor Bonetti?«
»Insofern, als das Mädchen nun mal nicht da ist.«
»Danke für die Info«, schnaubte De Marchi, der allmählich nervös wurde.
Als Jugendrichter war Bonetti nach jahrelanger Tätigkeit pensioniert, doch die Leitung der Vormundschaftskommission hatte er noch nicht abgetreten. Er war ein stämmiger Mann mit breiten Schultern und hoher Stirn. Sein Gesicht wurde von einer quadratischen Brille beherrscht: Das Modell war nicht gerade der letzte Schrei, doch sein Blick blitzte furchteinflößend hinter den dicken Gläsern hervor.
»Herr Kommissär«, sagte er und fasste De Marchi scharf ins Auge. »Ich darf Sie daran erinnern, dass es meine Aufgabe ist, eine Unterbringung für das Mädchen zu finden, das Vollwaise ist, sowie dafür zu sorgen, dass seine Rechte …«
»Schon gut.« De Marchi hob beide Hände. »Regen Sie sich nicht auf.«
»Vielleicht«, schaltete sich der Anwalt in beschwichtigendem Tonfall ein, »wünschen die Herren eine Tasse Tee?«
»Herr Advokat …«, begann De Marchi.
»Oder einen Kaffee? Ein kaltes Getränk?«
Bonetti und De Marchi kapitulierten vor seiner Beharrlichkeit. Der Polizist entschied sich für einen Kaffee,
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