Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Bonetti nahm einen Apfelsaft aus der Minibar in Bossis Büro. Dann setzten sie die Erörterung von Natalias rechtlicher Lage fort. Der Kommissär war sehr zuversichtlich, dass sie bald gefunden würde; und Bonetti gewann den Eindruck, dass die Polizei ihr zumindest eine Mitwisserschaft an dem Verbrechen unterstellte. Während er sich den Apfelsaft in ein Glas goss, ließ er den Blick vom einen zum anderen wandern und sagte: »In jedem Fall muss man behutsam vorgehen.«
»Sicher«, sagte Bossi. »Äußerst behutsam.«
»Natalia«, fuhr Bonetti fort, »ist erst siebzehn, verstehen Sie, und schon allein auf der Welt.«
Ein kurzes Schweigen trat ein. Dann fuhr Bonetti fort: »Was das Verbrechen betrifft, so habe ich Ihnen eine Mitteilung zu machen, die Sie interessieren dürfte, Herr Kommissär. Ich hätte Sie angerufen, aber nachdem wir ohnehin hier sind …«
De Marchi runzelte die Stirn. »Worum geht’s?«
»Oh, es ist nichts Besonderes … ich kannte Enzo Rocchi persönlich, wir sind – vielmehr waren – Parteifreunde, Sie wissen schon, man trifft sich. Vor ein paar Wochen – wir hatten schon eine Weile nichts voneinander gehört – rief er meine Sekretärin an und wollte sich mit mir zum Mittagessen verabreden. Es fand sich aber kein Termin, das Treffen musste verschoben werden, und schließlich …« Bonetti verstummte mit einem Seufzen.
»Und warum wollte er sich mit Ihnen treffen?«, fragte De Marchi.
»Ich glaube nicht, dass sein Anliegen in irgendeinem Zusammenhang mit dem späteren Verbrechen steht«, antwortete Bonetti. »Aber man weiß ja nie. Rocchi wünschte Informationen über die Nachtlokale in unserem Kanton.«
Die beiden anderen horchten auf.
»Was für Nachtlokale?«, fragte De Marchi.
»Insbesondere«, fuhr Bonetti fort, ohne auf ihn einzugehen, »wollte er, nachdem ich ja einschlägige Kenntnisse besitze, von mir wissen, wie verbreitet der Nachtclubbesuch bei Minderjährigen ist, vor allem bei Minderjährigen aus problematischen Verhältnissen.«
»Und wieso? Hat er nicht gesagt, warum?«
»Ich schätze, es ging um eine ärztliche Angelegenheit. Er hat nur mit meiner Sekretärin gesprochen und nichts weiter dazu gesagt, tut mir leid. Ich weiß nicht, ob Ihnen das weiterhilft.«
Nach dem Gesichtsausdruck des Kommissärs zu urteilen wusste der es selbst nicht.
9
Ein Mädchen aus der Stadt
Contini machte sich auf die Suche nach Natalia. Jetzt ist es also so weit, dachte er auf dem Weg über die Brücke, ich stecke mittendrin in dieser Sache. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er Enzo Rocchis Bitte entsprochen hätte? Vielleicht aber auch nicht. Und sich schuldig zu fühlen, bloß weil man kein Detektiv mehr sein will, wäre ja übertrieben.
Nach dem Gespräch mit Ernesto und Giovanni Canova hatte Contini eine Vermutung gehabt, wo Natalia sich verstecken könnte. Für ein Mädchen aus der Stadt, das ein Leben in der Wildnis kaum gewöhnt ist, dürften zwei Nächte unter freiem Himmel wenig attraktiv sein. In dem Gebiet, in dem sie untergetaucht war, könnte die kleine Kirche San Rocco, nahe dem Ruinendorf Valnedo, eine gute Zuflucht sein. In der Nähe gab es sogar einen Picknickplatz und ein Klo für Ausflügler. Und ein nicht zu überschätzender Vorteil war, dass man von der Kirche aus den Wanderweg gut im Blick hatte.
Deshalb ging Contini nicht den Weg entlang. Den hatte er dem Spaziergänger mit dem Designerbart gewiesen und war dabei doch sicher, dass der Mann gar kein Interesse an landschaftlichen Schönheiten und archäologischen Schätzen hatte. Wäre er wirklich ein Wanderer gewesen, hätte er auch nach Valnedo gehen können. Aber wenn er sich, wie es den Anschein hatte, eher für Contini interessierte, hätte er versucht, bei der nächsten Gelegenheit kehrtzumachen und ihm zu folgen.
Contini war allerdings keiner, der sich mitten im Wald beschatten lässt.
Er wusste selbst nicht, weshalb er derart argwöhnisch war. Vielleicht kehrte sein Ermittlerinstinkt zurück. Außerdem war ihm alles, was mit Natalia zu tun hatte, noch äußerst nebelhaft – als erzählten die Fakten eine ganz andere, verzerrte Geschichte, als verschleierte ein Taschenspielertrick die Wahrheit.
Valnedo. Wann immer er dort vorbeikam, schloss Contini die Augen und stellte sich die Stimmen der Bewohner vor. Einst war auf dieser jetzt vom Wald überwucherten Hügelkuppe eine lichte, sonnige Hochebene gewesen, Brunnen plätscherten, Kinder tollten herum, und die Hühner scharrten zwischen den
Weitere Kostenlose Bücher