Elia Contini 03 - Das Verschwinden
seine Nervosität war unübersehbar. Zuerst hatte er ihr Fragen gestellt, und Natalia hatte sich bemüht, Antworten zu geben. In ihrem Kopf waren sie ja. Aber sie konnte sie nicht aussprechen. Im gleichen Moment, in dem sie zu Lauten werden sollten, flogen ihr die Wörter davon. Es war ein Gefühl völliger Machtlosigkeit. Wie wenn man einen Namen auf der Zunge hat, aber er kommt einfach nicht: So erging es Natalia, und das immer, bei fast jedem Wort.
Es lag ihr immer auf der Zunge.
Sie drehte sich auf die Seite. Sie starrte die weiße Wand an, den Holzschrank, das Bild daneben, das ein Kind mit Wasserfarben gemalt hatte. Es kam ihr vor, als habe sie jahrelang fernab der Zivilisation gelebt, als sei sie Monat um Monat durch die Wälder geirrt, ohne je einer Menschenseele zu begegnen. Vielleicht hatte sie mit den Bäumen und Felsen geredet, hatte alle ihre Wörter verbraucht, um zu schreien, wo niemand sie hörte.
Lieber Gott, was ist nur mit mir passiert? Natalia spürte ein dunkles Gebilde im Zentrum ihres Bewusstseins, das sich nicht fassen und nicht beschreiben ließ, und sie versuchte es auch gar nicht. Sie wandte sich innerlich davon ab, und doch kehrten früher oder später ihre Gedanken immer wieder zu diesem dunklen Etwas zurück und umkreisten es …
alles hatte angefangen, als … der Wald hatte sich um sie geschlossen, weil sie nicht … nach dem Lauf, nach der Flucht, die … er hatte es auf sie abgesehen, wollte sie umbringen, nachdem …
Warum, fragte sich Natalia immer wieder, und der Schweiß trat ihr auf die Stirn, warum kann ich mich nicht erinnern, was war?
Sie zerbrach sich vergeblich den Kopf. Sie wusste, dass irgendwo eine Gefahr lauerte. Todesgefahr. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie in den Wald geflohen war und den Kontakt mit Menschen so weit wie möglich gemieden hatte. Wie die Überlebende einer Katastrophe: mit ein paar Gegenständen, die sie aus ihrem früheren Leben herübergerettet hatte. Sie musste sich ganz neu in der Welt einrichten.
Aber jemand war aufgetaucht. Giovanni, der am Bachufer kauerte mit seinen Forellen. Giovanni hatte mit ihr geredet. Zuerst wusste sie nicht, ob er Freund oder Feind war. Nach so viel Einsamkeit hatte sie nicht gleich verstanden, was er sagte, was er von ihr wollte, und war erneut geflohen. Hatte die kleine Kirche entdeckt, ihre Zuflucht, und ihre restlichen Lebensmittel verzehrt. Bis dann plötzlich Contini vor ihr gestanden hatte.
War es ein Fehler gewesen, mitzugehen? Natalia wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie weiterhin auf der Hut sein musste, die Gefahr konnte von allen Seiten kommen. Wenn sie daran dachte, dass ihr jemand wahrscheinlich nach dem Leben trachtete und sie nicht wusste, wie es dazu gekommen war, senkte sich ein schwarzer Schleier über ihr herab, und sie dachte: Das schaffe ich nie. – Dass sie in diese Lage geraten war, schien ihr zutiefst ungerecht.
Vorerst konnte sie nur ihre Lage im Bett verändern. Die Beine ausstrecken, den Blick auf einen Strohhut heften, der neben der Tür an einem Haken hing. Dieses Haus schien ein sicherer Hafen zu sein. Die Menschen, die hier wohnten, würden ihre Feinde fernhalten. Natalia war noch nicht besiegt. Sie war entschlossen zu kämpfen. Und irgendwann würde sie ihre Sprache wiederfinden.
CORVESCO – Sonia Rocchis Tochter im Wald verirrt
NATALIA HAT DAS GEDÄCHTNIS VERLOREN
von Gianni Schiavo
Natalia Rocchi ist wieder da. Gefunden hat sie unser Mitarbeiter Elia Contini, der ehemalige Privatdetektiv aus Corvesco: Die Siebzehnjährige hatte sich im Wald versteckt und in der kleinen Kirche San Rocco bei den Ruinen des alten Dorfs Valnedo Zuflucht gefunden. Seit der Nacht des 1. August, in der ihre Mutter umgebracht wurde, war sie durch den Bergwald oberhalb von Corvesco geirrt. Nach Auskunft der Polizei sei sie »in verwirrtem Zustand«. Sie spricht nicht und scheint ihr Gedächtnis verloren zu haben. Dr. Peter Mankell, der sie nach ihrer Rückkehr untersucht hat, meint, sie brauche jetzt »in erster Linie Ruhe und Frieden, um die Sprache wiederzufinden«. Die Behörden haben daher entschieden, Natalia vorerst nicht zu transferieren, sondern im Haus einer Familie von Feriengästen in Corvesco zu belassen.
Zahlreiche Fragen sind offen. Wie die Staatsanwaltschaft vermutet, hat Natalia möglicherweise das Verbrechen an ihrer Mutter beobachtet und dürfte somit die einzige Zeugin der Vorfälle in jener Nacht sein, in der Sonia Rocchi, wie wir berichtet haben, überfallen
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