Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Natalia riss die Augen auf, als sie Peter Mankell erkannte. Die Hand. Peter war gekommen, um sie vor der Hand zu retten. Im selben Moment aber wurde der Klammergriff an ihrer Schulter noch besitzergreifender.
»Der Herr hier sucht einen Fahrgast«, rief der Fahrer.
»Ich bitte um Entschuldigung wegen der Unterbrechung«, sagte Mankell, »aber Signorina Rocchi muss mit mir kommen, es ist sehr dringend. Natalia, wie geht es dir?«
Natalia überlegte eine Antwort, aber es dauerte zu lang.
»Ganz ruhig«, sagte Peter, sein Blick war jedoch auf eine Stelle hinter ihr gerichtet. »Die Lage ist unter Kontrolle, kein Grund zur Beunruhigung.«
»Wie bitte, was reden Sie denn da?«, fragte der Fahrer.
»Nichts, entschuldigen Sie.«
Peter war unterdessen bei ihr angelangt. Er berührte ihren Ellenbogen. »So, Natalia, kommst du?«
Mit großer Anstrengung antwortete Natalia: »Ja, danke für … fürs Mitnehmen.«
»Gehen wir, komm, wir dürfen das Postauto nicht länger aufhalten.«
»Der Mann«, sagte Natalia, »die Hand …«
»Darüber reden wir später. Danke, und entschuldigen Sie die Störung!«
Peter ließ sie in seinen Wagen einsteigen, der mit laufendem Motor hinter dem Postauto wartete. Natalia hatte kaum verstanden, wie ihr geschah. Sie hatte, als der Mann ihr ins Ohr gesprochen hatte, für einen Moment völlig klar gesehen, was in der Nacht des ersten August passiert war. Und kurz darauf verschwamm wieder alles, der Mann wurde zum Unbekannten, die Erinnerungen verblassten, und sie wusste nur noch eines: dass sie sich einen Augenblick lang erinnert hatte. Und dass das Erinnern mit einem tiefen Erschrecken verbunden war, das sie bis in ihr Fundament erschütterte.
Peters Stimme war wie ein langer ruhiger Gedankenfluss, gleichförmig wie das Rauschen der Brandung am Strand.
»Zum Glück bin ich auf die Idee gekommen, dich zu besuchen. Ich habe bei den Canovas angerufen, und die sagten: Sie ist aus dem Haus gegangen, bevor es zu regnen anfing. Bei diesem Wetter, hab ich mir gedacht, sitzt du bestimmt im Postauto, und ich hab mir gesagt: Halten wir es an, ich nehme sie im Auto mit. Das war doch recht so, oder?«
Natalia riss sich aus dem einlullenden Fluss los: »Aber die Hand … hat Wörter gesagt … sie wollte mir was tun, mir die Schuld geben, und der Mann war auf der Schulter, stark war er.«
Warum konnte sie sich nicht verständlich machen?
»Ja, ich hab schon gesehen, dass dieser Typ dich belästigt hat«, sagte Peter. »Dass er auf dich eingeredet und dich angefasst hat. Das war einer, der’s halt mal probiert, verstehst du, ein Katastrophentourist, er will wissen, wer das ist, die Hauptperson des Rätsels um den ersten August, wie es in den Zeitungen heißt, des Verbrechens von Corvesco …«
»Aber die Hand …«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, das war irgendwer, nicht weiter wichtig. Aber eines zeigt es: dass du nicht allein durch Corvesco laufen darfst, es ist zu gefährlich.«
Natalia gab es auf. Sie war zu erschöpft für geistige Anstrengungen.
Peter Mankell brachte sie zu einem massigen Haus, weiß mit grünen Fensterläden, ein Stück oberhalb des Dorfs. Sie stiegen aus, und als er läutete, machte Elia Contini auf. Der blickte rasch zwischen Peter und ihr hin und her und sagte: »Na so was … was macht ihr zwei denn hier?«
»Ich habe Natalia aufgelesen und mitgenommen«, sagte Mankell und trat ins Haus.
In der Tür zum Wohnzimmer stand Giovanni.
»Giovanni!«, rief Mankell aus. »Heute großes Treffen bei Contini, was?«
»Ja, ich bin hier, weil …«
»… er sich für ein altes Chanson von Brassens interessiert hat«, beendete Contini den Satz und stellte die Musik leiser. »Aber setzt euch nur, ihr wollt doch sicher was Warmes trinken?«
Mankell und Natalia ließen sich Tee trinkend vor dem Kaminfeuer trocknen, während Contini noch einen Kaffee für sich und Giovanni machte. Mankell erzählte, wie er aus einer Eingebung heraus das Postauto angehalten und dort einen fremden Mann überrascht habe, der Natalia belästigte.
Contini horchte auf. »Einen Fremden?«, fragte er.
»Junger Mann, blond, um die zwanzig, Deutschschweizer, würde ich sagen. Natalia war leicht geschockt …«
Natalia saß schweigend dabei und betrachtete die von ihrem Teebecher aufsteigenden Dampfschwaden, als ginge das Gespräch sie nichts an. Giovanni war einigermaßen alarmiert; er setzte sich neben sie und fragte leise: »Wie geht’s dir? Was ist passiert?«
»Jetzt …« Natalia
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