Elia Contini 03 - Das Verschwinden
der falschen Zeit bist, verstehst du? Man hat dich zu einer bestimmten Zeit an einen Ort bestellt, aber aus irgendeiner Ursache gelingt es dir nicht. Du bist entweder vor der Zeit oder nach der Zeit. Im Verzug.«
Natalia nickte. »Im Verzug«, sagte sie. »Aus der Zeit …«
»Aus der Zeit, ja, ich habe den Eindruck, dass sich irgendwo ein Fehler versteckt, eine tote Zeit. Was das ist, erfahren wir, sofern es uns gegeben ist, durch das Schweigen, aber nicht durch die Fragen unserer Ordnungshüter. Das Schweigen ist unsere Grundlage, von hier aus müssen wir suchen.«
Giona verstummte, paffte seine Zigarre und musterte Contini und Natalia nachdenklich.
»Es scheint mir kein zufälliges Verbrechen«, sagte er nach einer Weile. »Kein zufälliger Überfall zum … wie sagtest du?«
»Zum Zweck des Raubs«, sagte Contini.
»Dabei wirkt es gar nicht wie die geplante Tat eines Meuchelmörders, der seine Geheimnisse zu schützen trachtet. Hier ist Verzweiflung im Spiel, dünkt mich, und irgendwo steckt ein Verzug. Welcher uns nützlich sein kann.«
»Für was denn?«, platzte Contini unwirsch heraus. »Von was für einem Verzug redest du überhaupt? Beziehungsweise wessen?«
»Schwer zu sagen.«
»Eben. Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?«
»Der Verzug ist auch Schweigen, er ist das Warten vor dem Wort. Dort müsst ihr suchen. Ihr müsst den Sinn des Verzugs finden. In dieser Geschichte, dünkt mich wiederum, verbergen sich ungesagte Wörter. Viele Wörter warten darauf, gefunden zu werden. Von Natalia gefunden zu werden.«
»Du sprichst in Rätseln. Könntest du dich vielleicht ein bisschen klarer ausdrücken?« Continis Geduld näherte sich dem Ende. »Was für Wörter?«
»Das weiß ich nicht.« Gionas Blick ruhte auf den Wolken in der Ferne. » Ich weiß das nicht.«
Contini und Natalia wechselten einen ratlosen Blick.
14
Realitäten
Vernehmungsprotokoll
(Nr. 748/90.DM)
Betreff : Natalia Rocchi
(Kommissär Emilio De Marchi)
Resümee:Die Zeugin Natalia Rocchi wurde in Anwesenheit ihres Rechtsanwaltes Corrado Bossi und des Präsidenten der Vormundschaftskommission Brenno Bonetti vernommen. Die Vernehmung wurde vom Unterzeichneten, Kommissär Emilio De Marchi, sowie der Jugendrichterin Fulvia Parenti und dem Staatsanwalt Arno Bazzi durchgeführt. Nach Auskunft ihres behandelnden Arztes, Dr. Peter Mankell aus Lugano, leidet die Zeugin infolge eines traumatischen und belastenden Ereignisses an einer dissoziativen Amnesie, verschärft durch eine Aphasie, welche die Zeugin, obzwar auf dem Weg der Besserung befindlich, daran hindert, sich zusammenhängend und vollständig auszudrücken. Bezüglich der oben genannten Vernehmung lassen sich meines Erachtens drei Fakten extrapolieren.
1. Natalia Rocchi erklärt, der Ermordung ihrer Mutter beigewohnt zu haben, erinnert sich jedoch nicht an Namen und Aussehen des Mörders.
2. Natalia Rocchi erklärt, vom Ort des Verbrechens geflohen zu sein, weil der Mörder anscheinend auf sie aufmerksam wurde. Sie verließ das Haus und kehrte danach durch eine Terrassentür an den Tatort zurück. Die Zeugin erklärt, der Mörder habe sich über die Leiche ihrer Mutter gebeugt. Bei dieser Gelegenheit sei es ihr gelungen, vor der neuerlichen Flucht in den Wald einige Papiere an sich zu bringen, welche in dem Fall eine wichtige Rolle zu spielen scheinen. Von besagten Papieren ist keine Spur; einen Hinweis darauf liefert lediglich die Erklärung von Advokat Bossi, der zufolge Sonia Rocchi vor ihrem Tod ihm gegenüber die Existenz jener Papiere erwähnt habe. Weiter weiß Natalia nichts darüber zu sagen; insbesondere vermag sie nicht den Augenblick des Mordes zu isolieren: Sie schildert ihn so, als habe der Mord mehrfach stattgefunden und jedes Mal auf andere Weise.
3. Auch wenn sie von dem Mord an sich nichts mehr weiß, entsinnt sich Natalia Rocchi undeutlich, dass er in nicht geklärtem Zusammenhang mit einem »Tukan« genannten Nachtclub in Arbedo-Castione in Verbindung stehen soll. Mehr vermag sie hierzu nicht zu sagen. Der Eigentümer des Lokals, Luciano Savi, erklärt, von einer solchen Verbindung nichts zu wissen. Nach langer Befragung ließ sich somit recht wenig klarstellen. Natalia Rocchi leidet an einer posttraumatischen Störung, und es wurde für angebracht gehalten, sie vorläufig nicht weiter zu bedrängen. Aus den zusammenhanglosen Schilderungen der Zeugin, ihren Ängsten und/oder Hirngespinsten die Realitäten herauszulösen ist schwierig. Es wurde
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