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Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Titel: Elia Contini 03 - Das Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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der Suche nach Fixpunkten, an die man sich halten konnte, und in unbekanntes Gelände. Arianna hingegen fiel es gar nicht ein, sich einzufühlen und sich vorzustellen, was Natalia womöglich auszudrücken versuchte. Für sie zählte nur, dass jedes Ding den richtigen Namen hatte.
    Die Logopädin war eine magere Frau in den Fünfzigern mit blondem Pferdeschwanz und der Inbegriff der Tüchtigkeit: Am Ende der Sitzung war sie noch immer frisch wie eine Rose, während Natalia völlig erledigt war.
    Eine ihrer Übungen war besonders anstrengend, nicht zuletzt deshalb, weil Natalia sich dabei so dumm vorkam. Arianna zeigte ihr auf dem Bildschirm das Bild eines Gegenstands oder die Darstellung eines einfachen Handlungsablaufs, und Natalia musste versuchen, das Abgebildete zu benennen: Manchmal gelang es, manchmal benutzte sie das falsche Wort oder sagte einfach »Dings«. Im zweiten Teil der Übung erschien auf dem Bildschirm eine Reihe von Buchstaben, aber so durcheinandergemischt, dass sie ohne Sinn waren. Wenn Natalia das darin verborgene Wort nicht fand, half ihr Arianna irgendwann auf die Sprünge, indem sie das Wort laut sagte, und Natalias Aufgabe war es dann, auf dem Bildschirm die Buchstaben zu finden, aus denen das Wort bestand, und durch eine Berührung mit dem Finger zu markieren; manchmal brauchte es dazu mehrere Anläufe. Am Ende schrieb Natalia das Wort selbst von Hand auf eine kleine Schiefertafel.
    An diesem Nachmittag erkannte sie das Wort sofort: Automobil. Zuerst hatte sie »Verkehr« gedacht und »Steuer«, war aber nicht überzeugt gewesen – und ohne groß nachzudenken, hatte sie den Mund aufgemacht, und das Wort »Automobil« war herausgekommen. Jetzt suchte sie die dazugehörigen Buchstaben aus dem Haufen heraus.
    T B K U O O I R R L E
E A R B S T M U E V B
    Darin war das Wort verborgen. Natalia ging langsam und methodisch vor.
    A … U … sie zögerte kurz beim S , berührte dann aber denn Buchstaben rechts daneben. Der Finger schwebte vor dem Bildschirm, bevor sie die nächsten Buchstaben fand: O … M … O, wieder ohne Eile, sie musste sich bemühen, nicht zu schnell zu sein, aber auch nicht zu langsam. B … I … L. Geschafft.
    Von Hand zu schreiben war viel einfacher, dann kamen die Wörter und Sätze aus einem Guss, mit dem einen oder anderen Fehler vielleicht, aber einigermaßen flüssig. Die Suche nach Buchstaben auf dem Bildschirm ging zwar langsamer, half ihr aber, sich das betreffende Wort einzuprägen: Normalerweise vergaß sie es danach nicht mehr.
    Wie ein Kind, dachte sie, wie am allerersten Schultag. Vor ihr lag eine endlose Reihe von Tagen, die sich zwischen Schulbank und Pausenhof aufteilten. Ein Meer von Wörtern, die es zu erobern galt, und das ganze Leben vor ihr. Jeden Tag etwas Neues. Wie ein Kind.

17
Die beste Kur
    »Wir würden gern mit Ihrem Mann reden.«
    »Der ist jetzt nicht da. Er arbeitet heute und ist in der Praxis.«
    »Da haben wir’s schon versucht.«
    »Ach.«
    Agnese Mankell umklammerte das Telefon. War es also so weit. Es war ja nur eine Frage der Zeit gewesen, das wusste sie, und doch hoffte ein Teil von ihr noch immer, dass ihr Mann und seine Komplizen eine Lösung fänden – dass es wenigstens ihrem Mann gelänge, sich herauszuwinden. Sie war einfach nicht bereit, ihr Leben so radikal zu ändern.
    »Vielleicht macht er einen Hausbesuch. Warum rufen Sie ihn nicht auf dem Natel an?«
    »Er meldet sich nicht.«
    »Vielleicht hat er es im Auto vergessen. Mein Mann ist ein Schussel, wissen Sie.«
    »Wenn er sich bei Ihnen meldet, sagen Sie ihm bitte, dass Kommissär De Marchi ihn sprechen will, er kennt mich.«
    »Ja, gut.«
    Er kennt mich. Diese Worte waren der Anfang vom Ende.
    »Gut«, wiederholte Agnese. »Wo kann er Sie erreichen?«
    Der Kommissär gab ihr eine Telefonnummer, die Agnese auf einem Zettel notierte. Dann steckte sie den Zettel ein und stand eine Zeit lang da wie erstarrt. Sie war in den Dachboden hinaufgestiegen, um eine Blumenvase zu suchen, und die verstaubten Sachen ringsum hatten auf einmal etwas äußerst Bedrohliches.
    Es war ihr vergangenes Leben, es waren die ausrangierten Überreste ihrer Existenz, und sie starrten sie an. Alte Bilder, Geschirr, Möbel, Schachteln voller Bücher. Agnese meinte zu ersticken. Ihre Vergangenheit hatte sie an der Kehle gepackt und ließ nicht los. Sie hastete zum Dachfenster gegenüber, riss es auf und streckte den Kopf hinaus, um Luft zu schnappen. Hinter dem Kirchturm und den Häusern von Cadro

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