Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Savi.
»Ich weiß nicht«, sagte Natalia leise. »Ich weiß das Gesicht nicht. Ich erinnere mich, dass er zum Zuschlagen die … die …«
Contini erriet nicht, was sie sagen wollte. Natalia hob eine Hand.
»Seine Faust?«
»Ja, er hat meine Mutter geschlagen. Seine Faust.«
Contini konnte sich nicht erklären, woher seine Gewissheit kam, aber er war überzeugt, dass der alte Jonas Recht hatte und die Lösung des Rätsels bei Natalia lag, in den Wörtern, die ihr abhandengekommen waren. Wie Mankell ihm erklärt hatte, besteht nach einem traumatischen Erlebnis die Gefahr, dass sich das Opfer so genannte falsche Erinnerungen zurechtlegt: Das geschieht entweder durch Einflüsterung von anderen oder durch spontane Einfälle des Gedächtnisses, das Lücken zu füllen sucht. Contini probierte es auch auf diesem Weg.
»Aber kannst du das Gesicht des Mannes nicht sehen«, fragte er, »oder siehst du es und weißt, dass es nicht dieses ist?«
Die Frage verblüffte Natalia. Sie ließ sie sich noch einmal wiederholen, langsamer, und dachte lange nach, bevor sie antwortete. Schließlich sagte sie: »Du hast Recht. Vielleicht habe ich Erinnerungen, die falsch sind.«
»Siehst du ein anderes Gesicht?«
Natalia breitete ratlos die Hände aus, wie um ihm klarzumachen: Mehr kann ich wirklich nicht sagen. Contini wollte sie nicht zu sehr bedrängen. Aber er war überzeugt, dass aus Natalias Erinnerungen früher oder später dieses »Falsche« zum Vorschein käme. Und dann musste man zur Stelle sein. Deshalb verbrachte er jeden freien Moment mit Natalia. Rechtsanwalt Bossi hatte ihn zuerst, ebenso wie De Marchi, von ihr fernzuhalten versucht, aber zum Glück schätzte Natalia seine Gesellschaft. Und so kam es, dass Contini ganze Nachmittage auf diesem Balkon verbrachte.
Von dort sah man sämtliche Autos, die den Berg heraufkamen, darunter eben auch die Besucher. Inzwischen kannte er den Toyota von Dr. Mankell und den Fiat von Richter Bonetti. Die Logopädin fuhr einen Mini Morris, und Rechtsanwalt Bossi kam im Taxi. Jetzt sah er den Mini Morris um die erste Kurve der Bergstraße biegen.
Auch Natalia hatte das Auto gesehen. Mit einem Blick zu Contini sagte sie: »Neue Wörter.«
»Davon kann man nie genug haben«, antwortete er.
Natalia hatte ausdrücklich darum gebeten, dass Contini erlaubt sei, sie zu besuchen. Sie hatte das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen, was vielleicht daran lag, dass er und Giovanni die ersten Menschen waren, die sie nach ihrer Flucht, nach dem Gedächtnis- und Sprachverlust, zu Gesicht bekommen hatte. Jeden Tag sah sie die Logopädin und den Arzt, und bald sollte sie auch noch einen Psychiater kennenlernen. Aber den würde sie in seiner Praxis aufsuchen – sie wollte weder Psychologen noch Sozialarbeiter im Haus haben, und diesen Wunsch hatte sie durchgesetzt.
Sie ging hinunter, um die Logopädin hereinzulassen, und sah zu ihrer Überraschung, dass Giovanni Canova mitgekommen war. Er folgte der Logopädin mit ein paar Schritten Abstand, wie um die Aufdringlichkeit seines unangekündigten Besuchs abzumildern. Er sei mit dem Zug nach Lugano gekommen, erklärte er, und habe die Logopädin angerufen und gefragt, ob sie ihn mitnähme.
»Ich weiß schon, dass ihr arbeiten müsst«, sagte er zu Natalia, »aber ich bleibe einfach hier bei Contini, und wenn du fertig bist, plaudern wir ein bisschen. Das heißt, wenn du Lust zum Reden hast.«
Natalia lächelte, dann folgte sie der Logopädin ins Haus.
Sie war todmüde.
Zu den Logopädiesitzungen und den täglichen Gesprächen mit Mankell kamen die bürokratischen Umtriebe von Richter Bonetti mit seinen hundert Formularen und Fragen nach ihrer Vermögenssituation und ihrem künftigen rechtlichen Status. Natalia war mit einem Schlag Vollwaise geworden, wie es sonst nur im Märchen vorkommt. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer kam ihr das Wort »Waisenkind« in den Sinn, und sie musste lächeln, obwohl es nicht zum Lächeln war. Das kleine Waisenkind. Sie hätte es beinahe der Logopädin erzählt, besann sich aber: Die hätte das doch nicht verstanden.
Arianna Bassi sprach nie an Natalias Stelle. Die Logopädin war die Einzige, die ihr nie ein Wort suggerierte, die Einzige, die ausschließlich an Natalias Sprachvermögen interessiert war und nicht an dem, was sie sagte. Das war einerseits hilfreich, andererseits war es ermüdend, weil Natalia alles allein machen musste. Contini zum Beispiel durchforstete mit ihr gemeinsam ihre Erinnerungen, er begleitete sie bei
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