Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Contini setzte sich wieder auf den Balkon. Er wollte Natalia nicht wecken – er wusste ja, wie sehr das dauernde Bemühen, Erwartungen zu erfüllen und zu sprechen, als wäre es selbstverständlich, sie anstrengte.
Giovanni hatte, um seinen Zug nicht zu verpassen, Hals über Kopf das Haus verlassen, aber Contini war eine neue Leichtigkeit der Bewegungen an ihm aufgefallen und ein eigenartiges Funkeln in den Augen, und er hatte daraus den Schluss gezogen, dass dort am Rand des Schwimmbeckens zwischen den beiden etwas passiert war. Natalia war siebzehn; vielleicht half ihr ein stürmisches Verliebtsein ja besser als alle Ärzte und Anwälte. Und als Contini mit seinen Fragen. Vielleicht war es besser, zu vergessen und in die Zukunft zu schauen, wie Natalia und Giovanni es taten.
Das änderte aber nichts daran, dass Contini eben keine siebzehn mehr war.
Er trug eine Art Brunnenschacht mit sich herum, ein schwarzes Loch, in dem er Illusionen versenkte und die Zeit, die er damit vergeudet hatte, Hirngespinsten nachzulaufen. Er bemühte sich, neu anzufangen, nicht in alten Gewohnheiten zu verharren. Aber der Schacht ließ nichts verschwinden: Er verwahrte alles Versenkte, Vergrabene, ob Orte oder Menschen, wie eine geheime Wunde, die niemand sieht.
Oder benahm sich Contini wie ein Siebzehnjähriger?
Gut, Francesca hatte ihm einen Denkzettel verpasst. Er konnte versuchen, sie zurückzugewinnen und sich zu ändern. Oder er konnte beschließen, weiter an seiner Unabhängigkeit festzuhalten. Er hatte sich seine Freiheit mit einem eisernen Lebensrhythmus erkauft. Aber neben Natalias Einsamkeit schienen ihm seine Ansprüche absurd.
Auch Francesca rückte in immer weitere Ferne.
Auf der Straße tauchte jetzt Brenno Bonettis Fiat auf. Er kam häufig gegen Abend, um sich zu vergewissern, ob alles seine Ordnung hatte, und Contini argwöhnte, dass er ihm misstraute, obwohl er ihm diese Gespräche mit Natalia explizit gestattet hatte. Vielleicht hatte der Richter auch ein schlechtes Gewissen, weil die Vormundschaftskommission so säumig war. Schon zweimal hatte sie getagt, aber eine endgültige Entscheidung gab es noch immer nicht.
Der Fiat nahm die Kurven umsichtig, aber zielstrebig, im gleichen Stil, den der Richter Bonetti auch in allen anderen Dingen pflegte. Contini zündete sich eine Zigarette an, während er dem näher kommenden Wagen entgegenblickte.
In dem Moment ertönte ein Schuss.
Continis Wahrnehmung weigerte sich im ersten Moment, ihn als solchen zur Kenntnis zu nehmen. Eine Detonation auf dem Hügel von Massagno an einem Nachmittag im August? Das gab es nicht. Drei Sekunden später sprang er jäh auf.
Ein Schuss!
Eine Verwechslung war unmöglich. Ein Pistolenschuss. Und er kam von hinten.
Er rannte in den Garten. Am Fuß des Pavillons lag die schlafende Natalia im Gras. Er eilte auf sie zu und beugte sich über sie. Alles in Ordnung – sie schlief immer noch. Ohne sie zu wecken, vergewisserte er sich, dass sie nicht verletzt war. Natalia schlief wirklich, zum Glück.
Und der Schuss?
Contini blickte zum Haus. Im Wohnzimmer war Dr. Mankell und telefonierte, aber weshalb hätte er schießen sollen? Contini hielt dennoch Vorsicht für angebracht. Im Laufschritt umrundete er das Haus und rannte die paar Stufen zum Parkplatz hinunter. Brenno Bonetti stieg genau in diesem Moment aus dem Wagen und zerrte vom Rücksitz seine prall gefüllte Aktenmappe, von der er sich offenbar nie trennte.
»Ein Notfall«, sagte Contini.
»Wie bitte?«
»Kommen Sie, wir müssen das Haus kontrollieren. Ich erklär’s Ihnen später.«
»Aber …«
»Kommen Sie mit.«
Contini hastete wieder in den hinteren Garten. Dort hatte sich nichts verändert, Natalia schlief noch immer. Am Himmel braute sich ein Gewitter zusammen, und Richter Bonetti schnaufte schwer.
»Uff, ist das anstrengend. Wären Sie jetzt bitte so freundlich …«
»Keine Zeit. Bleiben Sie hier bei Natalia. Wenn was ist, rufen Sie mich. Alles klar?«
»Was soll denn sein? Was ist …«
»Alles klar?«
»Ja, natürlich, aber …«
Contini war schon auf dem Rückweg zum Haus und hatte kein Ohr für Bonettis Protest. Er näherte sich dem offenen Fenster zum Bad, neben dem Wohnzimmer, und kletterte über den Sims. Drinnen bewegte er sich lautlos vorwärts und sah sich bei jedem Schritt um. Er war unbewaffnet, wie immer, weil er nie daran dachte, eine Waffe einzustecken, bis er dann eine gebraucht hätte – das war schon zu seinen Detektivzeiten so gewesen,
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