Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Polizei wird rausfinden, was passiert ist. Dann hast du Frieden.«
»Hoffentlich.«
Nach einer Weile fragte Giovanni: »Gibt’s keine Freundinnen, die dich besuchen könnten?«
»Doch. Aber das Reden ist schwierig.«
Er hielt noch immer ihre Hand, und Natalia wünschte sich, dass er den Arm um ihre Schultern legte, sie an sich drückte. Sie wollte seinen mageren Körper spüren, ohne Zögern und ohne Bedenken. Sie streckte ihre glatten, gebräunten Beine aus, bewegte einen Fuß im Gras. Sie rückte ein paar Zentimeter näher zu Giovanni. Sie spürte, wie nervös er war, und ahnte, dass er nicht wusste, wohin er den Blick wenden sollte. Ihre Hüften berührten einander. Giovannis Haut war sonnenwarm.
»Wenn die Schule wieder anfängt, wird es vielleicht schwieriger, dass wir uns sehen«, sagte Giovanni. »Aber ich arbeite dann in Lugano. Wenn du willst …«
Natalia starrte ins blaue Wasser des Swimmingpools.
»Wenn du willst, können wir uns treffen. Ab und zu«, fuhr Giovanni fort.
Natalia drehte sich zu ihm. Sie sah ihn die Augen schließen und wieder öffnen. Er kam näher, und kurz darauf kam auch sie näher. Es war nicht klar, wer von ihnen den letzten Abstand überwand, jedenfalls küssten sie sich.
Natalia drückte ihn an sich, streichelte seine Schultern und seinen Brustkorb, sie küssten und umarmten einander schweigend. Die Nachmittagssonne war hinter einer Wolkenbank verschwunden, auf der Wiese aber war es immer noch warm. Natalia schmeckte Schweiß und roch Gras und Sonnenkrem.
Als Giovannis Telefon läutete, rückte sie ein Stück von ihm ab und ließ ihn los, damit er den Anruf annehmen konnte.
»Das ist nur der Wecker«, sagte er. »Ich hab ihn gestellt, damit ich meinen Zug nicht verpasse.«
Er griff nach dem Telefon, sah nach der Uhrzeit, verzog das Gesicht. »Wie lang braucht man zum Bahnhof?«
»Zu Fuß?«
»Notgedrungen.«
»Ungefähr zwanzig Minuten. Vielleicht kann dich Contini fahren.«
Giovanni schüttelte den Kopf. Nein, Contini sollte nur hierbleiben und aufpassen, dass nichts passierte. Natalia gefiel diese besorgte Miene. Er zog rasch seine Sachen an, verabschiedete sich mit einem verlegenen Kuss und rannte zum Bahnhof.
Natalia blieb im Gras liegen. Hoffentlich war das kein Fehler gewesen. Aber egal … Sie war traurig und froh zugleich. Sie wollte Giovanni wiedersehen, wollte mit ihm telefonieren, mit ihm reden. Sie war ein bisschen erschrocken und sehr müde. Sie rollte sich ein und schloss die Augen.
Über ihr zogen die Wolken dahin, sie spürte die Schatten auf ihren geschlossenen Lidern. Es war so viel geschehen – so viel in so kurzer Zeit. Sie konnte gar nicht alles denken, sie irrte durch Erinnerungen, die ihr im letzten Moment, als sie schon meinte, sie festhalten zu können, doch noch entwichen.
Ein Flugzeug flog über sie hinweg. Natalia lauschte ihm nach, bis das Brummen verklungen war, und fühlte sich auf einmal verlassen und einsam. Contini war zwar irgendwo im Haus, aber sie war allein hier auf der Wiese, neben dem reglosen Wasser im Becken. Immer dichter und dunkler schoben sich Wolken vor die Sonne. Warum hatte sie Angst? Was würde passieren?
Sie versuchte sich innerlich zu beschwichtigen.
Giovanni würde wiederkommen, und früher oder später, wenn sie Geduld hatte, würde die Angst verschwinden. Sie holte tief Luft. Man musste nur warten. Geduld war die beste Kur.
18
Während Natalia schlief
Contini fand sie schlafend auf der Wiese. Er deckte sie mit dem zweiten Handtuch zu, damit sie nicht fror – die dichte Wolkendecke ließ kaum noch einen Sonnenstrahl durch. Dann kehrte er zur Vorderseite des Hauses zurück und wartete.
Dr. Mankell kam heute etwas früher mit seinem Toyota. Normalerweise tauchte er gegen sieben Uhr zu einem halbstündigen Besuch vor dem Abendessen auf. Aber es war ja Feiertag; vielleicht wollte Mankell früher zu Hause sein. In Natalias Umgebung hatte nichts angehalten, niemand hatte sich frei genommen, weder die Logopädin noch der Arzt noch Richter Bonetti. Alle waren im Einsatz, als könnte Natalia damit geholfen werden.
»Natalia schläft«, sagte Contini zu Mankell, während er ihm die Hand reichte.
»Ja, ich bin zu früh«, sagte Mankell. »Aber ich muss sowieso noch ein paar Anrufe machen, und das tu ich am besten hier; das Natel habe ich leider in der Praxis vergessen.«
»Wollen Sie was trinken?«
»Nein danke, vielleicht später. Bonetti will auch noch kommen.«
Mankell zog sich ins Wohnzimmer zurück, und
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