Elia Contini 03 - Das Verschwinden
und seitdem er bei der Zeitung arbeitete, ruhte seine Walther PP sowieso ungenutzt zu Hause in einer abgesperrten Schublade.
Mit angehaltenem Atem näherte er sich der geschlossenen Wohnzimmertür.
Vielleicht war es ein falscher Alarm.
Vielleicht hatte er sich verhört und eine Fehlzündung oder einen Knallfrosch für einen Schuss gehalten. Vielleicht war irgendwo in der Nähe ein Schießplatz. Vielleicht …
Genug. Er verbannte alle Mutmaßungen aus seinen Gedanken und öffnete langsam und vorsichtig die Tür. Ehe er eintrat, spähte er durch den Spalt. Und sah sofort, was passiert war.
Dr. Mankell.
Er saß mit seitlich herabhängenden Armen in einem schwarzen Ledersessel und blutete am Kopf. Contini vergewisserte sich, dass sonst niemand im Zimmer war, trat auf Mankell zu und fühlte seinen Puls. Er war tot, kein Zweifel. Jemand hatte ihm in den Kopf geschossen.
VIERTER TEIL
Reden
1
Brief an niemanden
… ja, ich weiß, ich widerspreche mir selber mit diesen Briefen. Einerseits will ich nie über mich reden und meine Gedanken nicht preisgeben. Andererseits schreibe ich sie auf und schicke sie Ihnen; wer weiß, warum. Vielleicht deshalb, weil Sie die Menschen und Umstände, von denen ich Ihnen berichte, nicht kennen. Ich schreibe, und Sie lesen, das ist alles; keine Fragen und keine Erklärungen.
Heute will ich Ihnen von den jüngsten Entwicklungen erzählen. Vor allem dies: Ich habe es noch nicht geschafft, Francesca zu treffen. Ich habe mit ihr zu telefonieren versucht, aber mir ist klar geworden, dass ich zurzeit von etwas anderem in Beschlag genommen bin: Nach Sonia Rocchi ist jetzt auch Dr. Mankell umgebracht worden, er war der Praxiskollege von Enzo Rocchi. Ich war derjenige, der die Leiche entdeckt hat. Es war im Haus der Rocchis; ich war dort mit Natalia, die im Garten geschlafen hat, und dem Richter Bonetti (von der Vormundschaftskommission, die über eine Pflegschaft für Natalia entscheidet). Bonetti war gerade eingetroffen, als ich ihm von Mankell berichtete, und es hätte ihn fast der Schlag getroffen, aber ich konnte ihn beruhigen; ich hab ihm was zu trinken gebracht und ihn überredet, sich aufs Sofa zu legen.
In dem Moment erschien Natalia, die aufgewacht war, weil es zu regnen angefangen hatte. Sie kam ins Haus und wusste sofort, dass was passiert war. Zum Glück ging es Bonetti inzwischen besser, und er half mir, Natalia schonend beizubringen, dass in ihrem Wohnzimmer ein Toter liegt und dass dieser Tote ihr Hausarzt ist. Es ist wirklich ungeheuerlich – erst verliert dieses Mädchen beide Eltern, dann erschießt jemand ihren Arzt, den Kollegen und Freund ihres Vaters. Ich mache mir Sorgen; ich fürchte, dass sich dieser neuerliche Schlag in den nächsten Tagen bemerkbar machen wird.
Immerhin konnte ich verhindern, dass sie die Leiche sieht. Danach, als wir auf die Polizei warteten, drehte ich eine Kontrollrunde und merkte, dass es nicht leicht sein wird, diesen Mord zu erklären. Im Garten war ja die schlafende Natalia; und auch in den Nachbargärten waren Leute, die in Liegestühlen lagen oder im Pool badeten: Ich habe sie befragt, aber niemand, wirklich niemand hat irgendwen vorbeikommen sehen. Ich selber war auf dem Balkon und hatte die Straße im Auge – wäre jemand durch die Haustür gekommen, hätte ich es mitgekriegt; abgesehen davon war die Tür abgeschlossen. Es gibt einen weiteren Zugang vom Parkplatz aus, aber wenn der Mörder da herausgekommen wäre, hätte er Bonetti in die Arme laufen müssen, der zu dem Zeitpunkt, als der Schuss fiel, gerade eintraf. Vielleicht war der Mörder die ganze Zeit im Haus, war also schon da, als ich kam – aber auf welchem Weg ist er dann verschwunden? Vielleicht hat er sich im Garten versteckt – aber wieso hat ihn niemand gesehen – dieser Garten ist kein verwilderter Park, sondern äußerst übersichtlich. Vielleicht ist er in den paar Sekunden geflohen, die ich und Bonetti bei Mankells Leiche waren – aber warum hat ihn dabei kein einziger Nachbar beobachtet? Kurzum, eine üble Sache. Ich weiß nicht, warum ich mich verantwortlich fühle – vielleicht weil ich Natalia im Wald gefunden habe oder weil ich Enzo Rocchis Anfrage abgelehnt habe –, er hat mir gemailt, bevor alles angefangen hat. Fakt ist, dass mir die Sache nicht aus dem Kopf geht. Ich weiß, dass mit dem Tukan was oberfaul ist, aber es kann sich nicht nur um einen Prostitutionsring handeln, da MUSS mehr dahinterstecken, etwas Schlimmeres, etwas, das einen Menschen zum
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