Elina Wiik - 02 - Sing wie ein Vogel
gesagt. »Treff jetzt keine vorschnellen Entscheidungen.«
Susanne Norman versuchte Elina zu überreden, beim Oberlandesgericht Berufung gegen das Urteil einzulegen. Da das Amtsgericht eine gewisse Bedrohung akzeptiert hatte, würde das Oberlandesgericht Elinas Situation vielleicht mehr berücksichtigen und sie freisprechen. Elina hatte ihrer Freundin schweigend zugehört und wollte dann das Thema so rasch wie möglich beenden.
Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Kärnlund schlug ihr vor, ein paar Tage freizunehmen.
»Ich nehme drei Tage«, sagte sie, »ab morgen.«
Den Rest des Nachmittags verbrachte sie damit, ihren Schreibtisch aufzuräumen und Papiere zu ordnen. Als Letztes kippte sie den Inhalt ihrer Handtasche auf den Schreibtisch. Alte Quittungen, Kugelschreiber, Münzen, Lippenstift, ein Notizblock, Visitenkarten, Büroklammern, ein Päckchen Kaugummi und anderer Krimskrams fielen heraus. Sie sortierte aus, was sie nicht mehr brauchte.
Den Notizblock legte sie ins Regal hinter sich. Dann nahm sie ihn wieder vor und blätterte darin. Auf dem letzten Blatt stand eine Telefonnummer. Und ein Name: Anton. Sie schaute darauf und musste lächeln.
Vielleicht werde ich ihn anrufen, dachte sie, morgen. Vielleicht.
Botwid Wiik stand im Garten, als Elina kam. Er zog sich die erdigen Handschuhe aus und umarmte sie.
Sie unternahmen einen langen Spaziergang, anfangs schweigend, dann redeten sie über Alltägliches. Dann schwiegen sie wieder.
»Er war ein Opfer, oder?«, fragte Botwid Wiik plötzlich.
»Ja«, sagte Elina. »Jedenfalls hat er sich selbst als Opfer gesehen.«
»Wir waren alle Opfer der Umstände. Aber vielleicht mache ich es genau wie er und schiebe die Verantwortung für mein Verhalten auf andere. Ich hätte nie gedacht, dass ich mein Geheimnis jemals erzählen würde. Fast niemand von uns – und wir waren Hunderte – wollte darüber reden. Aber nachdem ich dir nun davon erzählt habe, fühle ich mich viel wohler. Alles Unangenehme hat sich wie in Rauch aufgelöst.«
»Wir tragen alle Geheimnisse mit uns herum, die wir nicht preisgeben wollen.«
Elina atmete tief durch. Dann begann sie einen langen Bericht über sich selbst. Wie sie es als Neunzehnjährige einem Mann überlassen hatte, ihr Leben zu lenken, bis sie nicht mehr wusste, wer sie war. Wie er sie unterdrückt hatte und wie lange es gedauert hatte, ehe sie wieder aufrecht stehen konnte. Dass diese Geschichte ausschlaggebend für ihre Berufswahl gewesen war. Dass sie immer noch unter schwachem Selbstvertrauen litt und manchmal Schwierigkeiten hatte, anderen zu vertrauen. Ihr war es nie gelungen, Geborgenheit bei Männern zu finden.
Als sie mit ihrem Bericht fertig war, hatte sie sich entschieden. Sie würde nicht kündigen.
Sie würde es nicht zulassen, dass sie zum Opfer wurde. Die Bürde des Geheimnisses war von ihren Schultern genommen.
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