Elizabeth II.: Das Leben der Queen
zwackte sie den Ältesten daher gerne bis zur Schmerzgrenze oder drehte ihm den Arm um, bis er schreiend ins Elternzimmer stürzte – um umgehend von seinem Vater in die Hand des Kindermädchens zurückgestoßen zu werden ob seiner Ungezogenheit; da hatte die Nanny ihn wieder ganz für sich. Bertie litt weitaus mehr, deutlich zurückgesetzt gegenüber seinem attraktiveren älteren Bruder. Oft gab Mrs. Green ihm unpünktlich zu essen und gerne auf besonders holprigen Kutschenfahrten. Davon entwickelte der spätere König früh chronische Magenprobleme, die auch seinen Kriegseinsatz verkürzten – er nahm unter anderem 1916 an der Schlacht am Skagerrak teil – und die ihn bis zum Schluss plagten.
Es brauchte drei Jahre, bis die Eltern dieser Misshandlungen an ihren eigenen Kindern überhaupt gewahr wurden und die teuflische Mrs. Green schließlich entließen. Kirsty McLeod kommentiert inihrer faszinierenden Studie «Battle Royal» von 1999, der ersten lückenlosen Chronik dieser tragischen Ereignisse, wie merkwürdig sich doch so viel elterliche Unachtsamkeit ausnahm in einem Haushalt, der ansonsten von Dienstpersonal und hilfreichen Geistern jeder Art überquoll. Aber nicht zum letzten Mal begegnen wir hier einer mehrfach angemerkten Insuffizienz des Gefühlslebens bei dieser Familie, dem fast gänzlichen Fehlen jeglicher emotionaler Intelligenz und, wie wir vielleicht hinzufügen sollten: emotionaler Neugier. Auch George V. und seine Frau aus dem württembergischen Hause Teck teilten die Unfähigkeit auszudrücken, was sie fühlten. Besser, man griff zur Feder. Schon ihre Brautzeit verlief wie ein Menuett in Briefen. «Es ist doch zu blöd», schrieb Mary einmal an George vor ihrer Hochzeit, «so steif miteinander zu sein. Dabei gibt es nichts, was ich Dir nicht auch mündlich sagen könnte, außer, dass ich Dich mehr als jeden anderen in der Welt liebe. Das kann ich Dir gegenüber nicht aussprechen, also schreibe ich es hier nieder, um meine Gefühle zu erleichtern.» Nicht einmal solche Erleichterung praktizierte die Herzogin, die spätere Queen Mary, gegenüber den Kindern. Sie galt als unmütterlich, zu höfisch, um Wärme zuzulassen. Immerhin brachte sie dem Erstgeborenen David die Kunst der Stickerei bei.
Davids und Berties Eltern folgten einem ungeschriebenen Embargo gegen das öffentliche Vorzeigen von Gefühlen, eine englische Krankheit nicht nur in dieser Familie, aber bei ihr wegen der königlichen Fassade der Unnahbarkeit und einer heute schwer begreiflichen Auffassung von Anstand stärker ausgeprägt als in der übrigen Gesellschaft. Einmal telegrafierte der Monarch an Bertie vor dessen Rückkehr von einem Besuch im industriellen Norden Englands: «Umarme mich nicht in der Öffentlichkeit, und wenn Du Deine Mutter küsst, nimm den Hut ab.» Hier hört man den Drillsergeanten im König, dem Queen Mary die Kontrolle über die Aufzucht der Kinder allein überlassen hatte, wie übrigens später Elizabeth II. die Erziehung von Charles ihrem Ehemann Philip, dem Herzog von Edinburgh. Die leidtragenden Kinder, zumindest der Herzog von Windsor, der Edward VIII. nach seiner Abdankung wurde, sowie Prinz Charles, haben der Welt Einblicke gewährtin ihre als lieblos empfundene Erziehung. Charles beichtete es Jonathan Dimbleby in dessen 1994 erschienenem Buch «The Prince of Wales: A Biography», der Herzog von Windsor in seiner Autobiografie von 1951, «A King’s Story». Die pädagogischen Fehlgriffe in der königlichen Erziehung hat der frühere Leiter des Archivs von Schloss Windsor, Sir Owen Morshead, einmal so kommentiert: «Das Haus Hannover [die Linie, die väterlicherseits Königin Victoria vorausging] produziert wie die Enten verrückte Eltern. Sie trampeln auf ihren Jungen herum.»
Lassen wir einmal beiseite, wie Sir Owen zu diesem merkwürdigen Urteil über Enten kommt – auf George V. trifft sein Diktum ohne Abstriche zu. Das bestätigte auch Alan Lascelles, der Privatsekretär Edwards VIII., nach dessen Abdankung in einem Gespräch mit Harold Nicolson, dem unermüdlichen Tagebuchschreiber: «David hatte alles als Geschenk mit auf seinen Weg bekommen, nur das Wichtigste nicht – die offene Liebe und Unterstützung seiner Eltern.» Bei Prinz Charles urteilen viele Beobachter ähnlich. Dass Charakterbildung ein unsentimentales Geschäft ist, war auch Charles’ Mutter, der Queen, von Jugend an vertraut. Es gehörte zur Erfahrung ihrer Generation, gehörte zur Kultur der
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