Elke im Seewind
„Nein", gibt sie mit dem Kopf schütteln zu verstehen. „Es ist ganz anders gewesen, als du denkst."
Elke empfindet das Dunkle, das da geschehen sein muß, aber sie empfindet zugleich Lottis aufrichtige Betrübnis. Blitzschnell zuckt eine Erinnerung in ihr auf, die Erinnerung an das Erlebnis einer eigenen Schuld. Als Schnee gefallen war, war sie einmal anstatt zur Klavierstunde mit ihren Freundinnen zum Rodeln gegangen, und weil das nicht herauskommen durfte, war ein ganz böses Lügengespinst daraus geworden. Ihr Vater hatte damals gar nicht gescholten, sondern er hatte nur ernst mit ihr gesprochen, und sie hatte sich sehr geschämt. Da hatte ihr Vater ihre Hände in seine gefalteten Hände genommen und hatte leise ein Vaterunser gebetet, und da war alles wieder gut gewesen. — — Verloren greift Elke nach Lottis Hand.
In diesem Augenblick sagt Fräulein Brunkhorst: „Wenn du vielleicht möchtest, daß ich die Uhr bis Hamburg aufhebe, Elke, ich tu es gern.“
Einen Augenblick lang zögert Elke mit der Antwort, aber dann weiß sie, wie die Lehrerin es meint. Wenn sie die Uhr noch nicht gleich wieder umbindet, können die anderen nicht wissen, was vorgefallen ist.
Mit ängstlich bettelnden Augen blickt Lotti die Kameradin an.
Da sagt Elke munter: „Das ist ja klar, ich binde die Uhr erst wieder in Hamburg um — Ehrensache! Lotti ist doch nicht gemein gewesen — sie hat mir die Uhr ja wiedergegeben.“
„Ich hätte sie dir bestimmt wiedergegeben“, erwidert Lotti und glaubt in diesem Augenblick selber fest daran. Und vielleicht wäre es ja auch wirklich so geworden, daß sie es doch nicht über sich gewonnen hätte, Elke ihre Uhr auf die Dauer vorzuenthalten.
Da bemerkt Elke plötzlich auf einer Dünenkuppe mehrere Kinder. „Juhu — juhuu!“ schreit sie und winkt, und alles andere ist vergessen über dem Triumph, daß sie das gesuchte Fräulein Brunkhorst vorhin als erste entdeckt hat.
Elke stürmt davon, und Lotti geht langsamer hinter ihr her. Die Nachhut auf dem schmalen Sandweg mitten durch Berg und Tal und Schlucht des weiten Dünengeländes bildet Fräulein Brunkhorst. Sie denkt: Diesen Nachmittag wird Lotti lange nicht vergessen — vielleicht ihr ganzes Leben lang nicht, und es mag sein, daß sie später genau fühlt, was das Entscheidende war in dieser für sie so dunklen, angsterfüllten Nachmittagstunde — daß es Elkes einfache, ehrlich herzliche Art war, die sofort bereit war, an das Gute in ihr zu glauben und versöhnlich zu sein. Es gibt ja nichts Schöneres und nichts Hilfreicheres als ein liebevolles, versöhnliches Menschenherz.
Wenige Augenblicke später kommt eine bunte Schar fröhlich-lauter Kinder herangestürmt und nimmt Fräulein Brunkhorst „gefangen“. Sie kann sich nur dadurch freikaufen, daß sie sich Kokonussos Häuptlingsputz auf den ergrauten Kopf setzen läßt. Wenn es nach den Kindern ginge, müßte sie in diesem Schmuck ganz bis nach Nebel nach Hause gehen — aber diesmal geht es nicht nach den Kindern.
Zwölftes Kapitel
VIELERLEI ABSCHIED
Unsere vier haben nun noch zwei Tage ihrer Ferien an der See vor sich, den Sonntag und den Montag. Am Dienstagmorgen soll die Heimreise angetreten werden. Die soll diesmal nicht mit dem Schiff zurückgelegt werden. Oder besser gesagt, nicht ganz mit dem Schiff, denn bis Dagebüll drüben an der schleswig-holsteinischen Küste, wo sie in den Zug nach Hamburg einsteigen werden, müssen sie ja mit dem Fährschiff durchs Wattenmeer fahren.
Zwei Tage noch! Zwei Tage nur noch, wird den Kindern klar, als sie sich überlegen, was sie alles noch unternehmen möchten: Am Strand Muscheln und Seesterne sammeln für Zuhause, Abschied von Boxer nehmen und ihm noch mal einen ganz Berg voll Futter bringen, hin zum Leuchtturm — vielleicht schenkt Herr Franz ihnen jeder einen Kanarienvogel zum Abschied — noch tüchtig mit Tapsel spielen und baden, baden, baden — Elke überlegt sich, ob das Verbot für sie, zweimal zu baden, auch für die allerletzten Tage gilt. Und wattlaufen! Sie sind bis jetzt noch kein einziges Mal dazu gekommen, wattzulaufen. Und dann auch noch nach Steenodde, um geräucherte Makrelen als Mitbringsel zu kaufen und bei der Gelegenheit den Ziehhund Hektor noch mal wiederzusehen.
Das Wetter tut alles, um den Kindern den Abschied schwer zu machen. Ein strahlend blauer Sonntagmorgen steigt über der Insel auf, und die Luft ist ganz ruhig. Gewiß, bei Wind ist die Brandung am Weststrand stärker, das gibt mehr
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