Elli gibt den Loeffel ab
war sie eine Süße gewesen — im wahrsten Sinne des Wortes.
»Es ist so unwürdig«, brach es urplötzlich aus Christine hervor, einer hübschen Frau mit blondem, glattem Haar, das sie dem Anlass entsprechend streng zu einem Dutt zusammengefasst hatte. »So unwürdig!«, schluchzte sie.
Frieda legte tröstend eine Hand auf den Arm von Remys einziger noch lebenden Verwandten. »Du hast ja so recht!«
Und wie recht Christine hatte. Eine Beerdigung, bei der der Urnenträger nicht aufzufinden war, hatte tatsächlich etwas Skurriles. Geschlagene zehn Minuten hatten sie vor Remys Urne gewartet, die ein Friedhofsangestellter einfach auf dem Boden abgesetzt hatte. Erst als Remys Nichte die Friedhofsleitung rebellisch gemacht hatte, stellte sich ein provisorischer neuer Urnenträger ein — der Azubi des Friedhofsgärtners, wie sich später herausstellen sollte. Völlig überfordert und vermutlich von der Friedhofsleitung falsch informiert, hätte er um ein Haar Remys sterbliche Überreste auch noch im falschen Grab versenkt.
»Ich muss mich frisch machen«, seufzte Christine und zog sich mit verweintem Gesicht in Richtung Toiletten zurück.
Nun fing Frieda wieder an, mit ihrer Kaffeetasse zu spielen, und ließ den Zeigefinger über den Rand kreisen. Das machte sie immer, wenn ihr irgendetwas auf der Seele brannte.
»Elli... Ich...«
»Ich weiß. Sie fehlt mir auch«, gab Elli ihr mit tröstendem Blick zu verstehen.
Überraschenderweise schüttelte Frieda den Kopf. »Das ist es nicht.« Sie sah Elli aus traurigen Augen an. »Ich muss morgen nach Frankfurt.«
Elli stutzte. Was konnte daran so schlimm sein, nach Frankfurt zu fahren? Vermutlich wollte Frieda ihre Tochter besuchen.
»Andrea hat endlich wieder einen Job gefunden, in einer Werbeagentur.«
»Das ist doch schön«, freute sich Elli aufrichtig.
»Benny ist noch zu klein für den Kindergarten, und einen Krippenplatz bekommt sie so schnell nicht. Ich hab ihnen angeboten, zu ihnen zu ziehen. Jemand muss sich doch um den Kleinen kümmern.«
Angesichts dieser Neuigkeiten konnte einem selbst ein Stück Bienenstich im Halse stecken bleiben.
»Du ziehst weg?«
Frieda nickte bedeutsam. »Ich wollte es dir schon gestern sagen, aber irgendwie...«
Na prima, das war dann wohl das Ende ihrer Kegelabende! Aber was noch viel schlimmer war: Von nun an hieß es für Elli, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass sie fortan wirklich mutterseelenallein war.
Nur zwei Filme in der Rückgabebox, darunter auch Zeit der Unschuld. Dabei hätte Elli nur zu gern gewusst, mit welcher »talentierten« Nachwuchsschauspielerin Norbert momentan zusammen war. Vermutlich war der Film am Vormittag zurückgegeben worden, als der Laden wegen der Beerdigung geschlossen war. Noch vor wenigen Jahren hatte Elli schon eine Stunde vor Beginn der Öffnungszeiten alle Hände voll zu tun gehabt. Vierzig bis sechzig Filme galt es aus der Einwurfbox herauszufischen, sie in der Datenbank als zurückgegeben zu markieren und in die Regale einzuräumen. Heutzutage waren zehn Filme schon viel.
Ellis bisheriger Trumpf war einzig und allem ihr profundes Filmwissen. Eine Online-Videothek konnte niemanden wirklich gut beraten. Das Dumme an der Sache war nur, dass die meisten Kunden gar keine Beratung mehr brauchten. Nach »irgendwas mit Action« konnte man auch online Ausschau halten. Wer interessierte sich heute noch für cineastische Leckerbissen? Höchstens eingefleischtes Filmfestpublikum und ein paar Medienschaffende. Davon konnte sie aber nicht leben.
Ein Blick auf die Wanduhr: erst zwei. Die Regale waren mehrfach abgestaubt. Kein Kunde in Sicht. Was tun? Vielleicht einen Film ansehen? Noch nicht einmal dazu hatte Elli mehr Lust. Die Post!, fiel ihr schlagartig ein. Sie hatte den Briefkasten heute noch gar nicht geleert, und zu ihrer großen Erleichterung stellte Elli fest, dass er gut gefüllt war. Zahlreiche Werbesendungen, Rechnungen und der Katalog eines Bücherclubs waren darunter — es gab also einiges zu tun. Zwischen den Prospekten entdeckte sie einen Briefumschlag aus grauem Umweltschutzpapier. O Gott! Bestimmt ein Brief vom Finanzamt. Etwa eine Betriebsprüfung? Oder ein Vorauszahlungsbescheid? Korrespondenz auf Umweltschutzpapier beinhaltete eigentlich immer unangenehme Neuigkeiten.
Diesmal war es allerdings ein Schreiben von der Bank. Sie wollten ihr den Kredit kündigen? »Die Einnahmen lassen keine glaubhaft darstellbaren Perspektiven mehr für den Dispositionskredit erkennen«,
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