E.M. Remarque
die faltige Stirn und die zu
weichen Hände. Ich wachte auf, tief verstört, aber nicht mehr so verwirrt und
nahe dem Selbstmord wie sonst. Ich wachte auf, voll von Bitterkeit und
Rachegefühlen, aber nicht mehr hingeschlagen und wie von einem Lastwagen
überfahren, sondern geduckt und gesammelt und in einer furchtbaren Ungeduld und
dem finsteren Bewußtsein, noch am Leben zu sein und mein Leben benutzen zu
können. Es war nicht mehr das Gefühl eines hoffnungslosen Endes – es war
das Gefühl eines hoffnungslosen Beginnens. Hoffnungslos deshalb, weil nichts
wieder lebendig zu machen war. Was gefoltert, ermordet und verbrannt war, war
geschehen und nicht wiedergutzumachen und nicht mehr zu ändern. Zu ändern war
aber die andere Seite des Geschehens. Das war nicht mit Rache zu verwechseln,
obwohl es ihr glich und aus denselben primitiven Wurzeln kam wie sie. Es war
das Gefühl, das nur dem Menschen eigen war: Daß ein Verbrechen nicht ungesühnt
bleiben sollte, weil sonst alle moralischen Fundamente zusammenbrechen und
Chaos herrschen würde.
***
Es war sonderbar, daß diese letzten
Monate trotz allem etwas Gewichtsloses hatten. Das Bild hatte sich verschoben,
das Schattenhafte, Unwirkliche, das der ganze Aufenthalt in Amerika an sich
gehabt hatte, war auf einmal einer stillen, zauberhaften Landschaft gewichen.
Es war, als hätte sich ein Nebel gehoben, Farben waren da, ein Idyll am frühen
Abend im goldenen Licht, eine stille Fata Morgana über einer rastlosen Stadt.
Es war das Bewußtsein des Abschieds, der alles verklärte und idealisierte. Es
war immer der Abschied, dachte ich, und ein Leben voller Abschiede schien mir
einen Augenblick lang wie das wirkliche Pendant zum Traum des ewigen Lebens,
nur daß es an die Stelle einer unerträglichen ahasverhafteten Monotonie ein
volles Dasein von verklärten Toten setzte. Jeder Abend war der letzte.
Ich hatte mich entschlossen, Natascha erst
im letzten Augenblick zu sagen, daß ich zurückginge. Ich spürte, daß sie es
ahnte, aber sie sagte nichts, und ich wollte es lieber auf mich nehmen, als
Deserteur und Verräter dazustehen, als der Quälerei eines lang hinausgezogenen
Abschieds mit Vorwürfen, Gekränktsein, kurzen Versöhnungen und den anderen
Schwierigkeiten ausgesetzt zu sein. Ich konnte es auch nicht. Was ich an Kraft
hatte, war auf ein anderes Ziel gerichtet. Ich konnte nichts davon entbehren
und in furchtloser Trauer, Streit und Erklärungen verschwenden.
Es waren klare Wochen, die so voll von
Liebe waren wie ein Bienenkorb mit Waben voller Honig. Der Mai wuchs in den
Sommer hinein, und die ersten Nachrichten aus Europa kamen durch. Es war, als
öffne sich ein Grab, das lange zugemauert gewesen war. War ich früher oft den
Nachrichten ausgewichen oder hatte ich sie nur mit der oberen Schicht meines
Bewußtseins registriert, um von ihnen nicht umgestoßen zu werden, so stürzte
ich mich jetzt darauf. Sie hatten mit dem Ziel zu tun, das mir wie ein Pfahl im
Fleische steckte: abzufahren. Ich war blind und taub gegen alles andere.
»Wann fährst du?« fragte Natascha mich
plötzlich.
Ich schwieg eine Sekunde. »Anfang Juli«,
sagte ich dann. »Woher weißt du es?«
»Nicht von dir. Warum hast du es mir nicht
gesagt?«
»Ich habe es erst gestern erfahren.«
»Du lügst.«
»Ja«, erwiderte ich, »ich lüge. Ich wollte
es dir nicht sagen.«
»Du hättest es mir ruhig sagen können.
Warum nicht?«
Ich schwieg. »Es fällt mir schwer«,
murmelte ich dann.
Sie lachte. »Warum? Wir waren eine Zeitlang
zusammen, und wir haben uns nichts vorgemacht. Einer hat den anderen benützt.
Jetzt trennen wir uns. Was ist dabei?«
»Ich habe dich nicht benützt.«
»Aber ich dich. Und du mich auch. Lüge
nicht! Es
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