E.M. Remarque
Aufruhrs
unter, der jeden Tag höher und höher am Horizont emporwuchs. Ich suchte
Natascha, wenn ich auf der Straße war, aber ich traf sie nie. Ich beruhigte
mich mit den törichtesten Mitteln, unter denen die Idee einer Rückkehr nach
Amerika noch das geringste war. Melikow wurde zu einem Jahr Gefängnis
verurteilt. Ich war die letzten Tage allein. Silvers schenkte mir fünfhundert
Dollar als Bonus. »Vielleicht sehe ich Sie in Paris«, sagte er. »Ich will im
Herbst hin, einiges kaufen. Schreiben Sie mir.« Ich klammerte mich daran und
versprach, ihm zu schreiben. Es tröstete mich, daß er nach Europa kam und aus
einem so bequemen Grunde. Es machte Europa weniger mörderisch, als es mir
schien.
Als ich nach Europa zurückkam, fand ich
eine Welt vor, die ich nicht mehr kannte. Ich fand das Museum in Brüssel, aber
niemand konnte mir darüber Auskunft geben, was in der Zwischenzeit geschehen
war. Man kannte noch den Namen des Mannes, der mich gerettet hatte; niemand
aber wußte, was aus ihm geworden war. Ich suchte einige Jahre lang. Ich suchte
auch in Deutschland. Ich suchte nach den Mördern und nach meinem Vater. Ich
dachte oft mit großem Schmerz an Kahns Worte, er hatte recht gehabt. Die
schwerste Enttäuschung war die Rückkehr, sie war eine Rückkehr in die Fremde,
eine Rückkehr in Gleichgültigkeit, versteckten Hass und Feigheit. Niemand
erinnerte sich mehr daran, zur Partei der Barbaren gehört zu haben. Keiner
übernahm die Verantwortung für das, was er getan hatte. Ich war nicht mehr der
einzige mit einem falschen Namen. Es gab jetzt viele Hunderte, die rechtzeitig
ihre Pässe umgetauscht hatten und eine Emigration von Mördern bildeten. Die
Besatzungsbehörden waren gutwillig, aber ziemlich hilflos. Sie waren bei
Auskünften auf deutsche Mitarbeiter angewiesen, die Angst vor späterer Rache
haben mußten oder immer an den Ehrenkodex dachten, das eigene Nest nicht zu beschmutzen.
Ich fand das Gesicht aus dem Krematorium nicht wieder; niemand konnte sich an
Namen erinnern; niemand an seine Taten; viele nicht einmal daran, daß
Konzentrationslager existiert hatten. Ich stieß auf Schweigen, auf Mauern von
Angst und Ablehnung. Man versuchte es damit zu erklären, daß das Volk zu müde
geworden sei. Es habe selbst so viele Kriegsopfer und Tote gehabt. Jeder hatte
selbst genug durchgemacht; man konnte sich nicht auch noch um andere kümmern.
Die Deutschen waren kein Volk der Revolution. Sie waren ein Volk von
Befehlsempfängern. Der Befehl ersetzte das Gewissen. Es wurde die beliebteste
Ausrede. Wer auf Befehl gehandelt hatte, war nicht verantwortlich.
Ich weiß nicht mehr, was ich in diesen
Jahren alles getan habe. Es gehört auch nicht in diese Aufzeichnungen. Es war
sonderbar, daß die Erinnerung an Natascha langsam immer stärker aufstieg. Es
war kein Bedauern darin und keine Reue, aber ich wußte erst jetzt, was sie für
mich gewesen war. Ich hatte es damals nicht begriffen, aber nun, wo alles
andere von mir abfiel oder zu Enttäuschungen, Ernüchterung und Irrwegen sich
zusammendrängte, wurde es mir mehr und mehr klar. Es war, als schmelze man aus
einem rohen Golderz das reine Metall hervor. Es hatte nichts mit meiner
Enttäuschung zu tun, aber ich hatte angefangen, klarer zu sehen und Distanz zu
gewinnen. Je weiter die Zeit zurückwich, um so bestürzender wurde die
Erkenntnis, daß Natascha das wichtigste Erlebnis meines Lebens gewesen war,
ohne daß ich es gewußt hatte. Es mengte sich keine Sentimentalität hinein, auch
nicht das Bedauern, daß ich es zu spät erkannt hatte. Ich glaube vielmehr, daß,
wenn ich es damals schon begriffen, Natascha mich wahrscheinlich verlassen
hätte. Meine
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