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E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schatten im Paradies
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be­griff
nichts mehr. Ich fühl­te nur, daß, selbst wenn ich blie­be, jetzt al­les zu En­de
wä­re. Ich hör­te, wie Na­ta­scha hin­ter mir ih­ren Rock an­zog.
    Ich dreh­te mich um, als ich die Tür hör­te,
und stand auf. »Bring mich nicht hin­aus«, sag­te sie. »Bleib hier. Ich will
al­lein ge­hen. Und komm nicht wie­der. Nie. Komm nie wie­der.«
    Ich blieb im Zim­mer ste­hen. Ich starr­te sie
an, ihr blas­ses, aus­drucks­lo­ses Ge­sicht, die Au­gen, die über mich hin­weg­sa­hen,
ih­ren Mund und ih­re Hän­de. Sie wink­te nicht, sie war schon fort, be­vor sie die
Tür hin­ter sich schloß.
    Ich lief ihr nicht nach. Ich wuß­te nicht,
was ich tun soll­te. Ich stand und starr­te.
    ***
    Ich dach­te dar­an, daß ich Na­ta­scha
noch er­rei­chen könn­te, wenn ich ein Ta­xi näh­me. Ich stand schon an der Tür,
aber dann dach­te ich dar­über nach, was ge­schä­he, und ich ging zu­rück. Ich
wuß­te, daß es zweck­los wä­re. Ich stand noch ei­ne Wei­le im Zim­mer. Ich woll­te
mich nicht set­zen. Schließ­lich ging ich nach un­ten. Me­li­kow war da. »Hast du
Na­ta­scha nicht nach Hau­se ge­bracht?« frag­te er ver­wun­dert.
    »Nein. Sie woll­te al­lein ge­hen.«
    Er sah mich an. »Das gibt sich wie­der.
Mor­gen ist das ver­ges­sen.«
    Ei­ne un­sin­ni­ge Hoff­nung pack­te mich.
»Meinst du?«
    »Na­tür­lich. Gehst du schla­fen? Oder trin­ken
wir noch einen Wod­ka?«
    Die Hoff­nung hielt an. Ich hat­te ja noch
zwei Wo­chen bis zur Ab­fahrt. Al­les ver­wan­del­te sich plötz­lich in ei­ne flie­ßen­de
Freu­de. Ich hat­te das Ge­fühl, wenn ich jetzt mit Me­li­kow trän­ke, wür­de Na­ta­scha
mor­gen an­ru­fen oder kom­men. Es war un­mög­lich, daß wir uns so trenn­ten. »Gut«,
sag­te ich, »trin­ken wir einen. Was macht dein Pro­zeß?«
    »In ei­ner Wo­che ist er dran. Ich ha­be al­so
noch ei­ne Wo­che zu le­ben.«
    »Warum?«
    »Wenn ich lan­ge ein­ge­sperrt wer­de, über­le­be
ich das nicht. Ich bin sieb­zig Jah­re alt und hat­te be­reits zwei Herz­in­fark­te.«
    »Ich kann­te je­mand, der ist im Ge­fäng­nis
ge­sund ge­wor­den«, sag­te ich vor­sich­tig. »Kein Al­ko­hol mehr, leich­te
Be­schäf­ti­gung im Frei­en, ein ge­re­gel­tes Le­ben. Und nachts Schlaf, nicht am
Ta­ge.«
    Me­li­kow schüt­tel­te den Kopf. »Al­les Gift
für mich. Aber wir wer­den se­hen. Man soll nicht nach­den­ken, wenn es un­nö­tig
ist.«
    »Nein«, sag­te ich. »Das soll man nicht.
Wenn man es nur könn­te.«
    Wir tran­ken nicht viel. Wir hat­ten bei­de
das Ge­fühl, als hät­ten wir uns noch ei­ne Men­ge zu sa­gen, und wir setz­ten uns
hin, als wür­de es ei­ne lan­ge Nacht. Aber dann war auf ein­mal sehr we­nig zu
re­den, wir blie­ben fast stumm. Je­der war in sei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken ver­sun­ken,
und da war nichts mehr mit­zu­tei­len. Ich hät­te nicht nach Me­li­kows Pro­zeß fra­gen
sol­len, dach­te ich, aber das war es nicht. Ich stand schließ­lich auf. »Ich bin
un­ru­hig, Wla­di­mir. Ich wer­de noch so lan­ge her­um­lau­fen, bis ich mü­de bin.«
    Er gähn­te. »Und ich wer­de schla­fen –
ob­schon ich da­zu si­cher spä­ter noch ge­nug Zeit ha­ben wer­de.«
    »Glaubst du, daß man dich ver­ur­tei­len
kann?«
    »Man kann je­den Men­schen ver­ur­tei­len.«
    »Oh­ne Be­wei­se?«
    »Man kann auch für al­les Be­wei­se fin­den.
Gu­te Nacht, Ro­bert. Man soll sich vor Er­in­ne­run­gen hü­ten, das weißt du ja,
oder?«
    »Ja, das weiß ich. Das ha­be so­gar ich
ge­lernt. Sonst leb­te ich nicht mehr.«
    »Er­in­ne­run­gen sind ein ver­dammt schwe­res
Ge­päck. Be­son­ders wenn man ein­ge­sperrt ist.«
    »Das weiß ich auch, Wla­di­mir. Du doch auch?«
    Er hob die Schul­tern. »Ich glau­be es. Aber
wenn man alt wird, ver­gißt man sie oft ganz. Oder sie kom­men plötz­lich wie­der.
Bei mir keh­ren Din­ge zu­rück, an die ich seit vier­zig Jah­ren nicht mehr ge­dacht
ha­be. Sehr merk­wür­dig.«
    »Sind es gu­te Er­in­ne­run­gen?«
    »Teils, teils. Das ist eben das
Merk­wür­di­ge. Die gu­ten sind schlecht, weil sie vor­bei sind, und die schlech­ten
sind gut, auch weil sie vor­bei sind. Glaubst du, daß man im Ge­fäng­nis mit so
et­was le­ben kann?«
    »Ja«, sag­te ich. »Es ver­treibt die Zeit.
So­lan­ge du so dar­über denkst

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