E.M. Remarque
von dem ich ausgeschlossen war und
von dem ich nur die Umrisse wahrnahm. Ich war mitten unter ihnen und gehörte
doch nicht dazu, war entfernt durch etwas Unsichtbares, nicht durch eine
Glaswand und nicht durch eine Distanz, nicht durch Feindseligkeit und nicht
durch Fremde, sondern durch etwas, das nur mich allein anging und nur aus mir
kam. Dunkel begriff ich, daß es ein einmaliger Augenblick war, daß er so nie
wieder käme. Schon morgen würde er etwas verwischt sein – nicht daß ich
all dem näher gekommen wäre, im Gegenteil –, es war möglich, daß ich schon
morgen den Kampf beginnen würde mit Kuschen und Feilschen und Verfälschen und
jener Traube aus Halblügen, aus der jeder Tag bestand, aber heute nacht zeigte
mir die Stadt ihr unbeteiligtes Gesicht.
Ich wußte plötzlich, daß ich jetzt, wo ich
an dieser fremden Küste angelangt war, die Gefahr noch nicht überstanden hatte,
daß sie im Gegenteil erst richtig begann. Nicht die äußere, sondern die von
innen. Ich war so lange mit dem einfachen Überleben beschäftigt gewesen, und
darin hatte gleichzeitig mein Schutz gelegen. Es war primitives Überleben
gewesen, wie bei der Panik eines Schiffsunterganges, wo es kein anderes Ziel
gibt als das, zu überleben. Jetzt, schon von morgen an, sogar von dieser
sonderbaren Stunde an, würde sich das Leben wieder fächerförmig vor mir
ausbreiten, es würde wieder eine Zukunft, aber auch eine Vergangenheit haben,
eine Vergangenheit, die mich leicht erschlagen konnte, wenn ich sie nicht
vergaß oder sie bewältigen konnte. Ich wußte plötzlich, daß das Eis, das sie
gebildet hatte, noch für lange Zeit zu dünn wäre, um darauf zu gehen. Ich würde
einbrechen. Ich mußte es vermeiden. Gab es das noch einmal, von vorn, so wie
die Sprache, die neue unbekannte, die vor mir lag, um gedeutet zu werden, gab
es das noch einmal: das Leben, und war es nicht Verrat, war es Mord, doppelter
Mord an geliebten Toten?
Ich drehte mich rasch um und ging zurück,
verwirrt und tief aufgerührt, ich blickte nicht mehr umher, und ich war fast
atemlos, als ich das Hotel vor mir sah – nicht breit und waagrecht und
augenfällig wie andere Hotels, sondern schmal und unauffällig.
Ich trat durch die Tür, die durch falsche
Marmorleisten verunstaltet wurde, und sah Melikow hinter der Theke in einem
Schaukelstuhl dösen. Er öffnete die Augen, die für einen Moment lidlos wirkten
wie die eines alten Papageien, dann wurden sie blau und hell.
»Spielen Sie Schach?« sagte er und erhob
sich.
»Wie jeder Emigrant.«
»Gut. Ich hole den Wodka.«
Er ging die Treppe hinauf. Ich sah mich um.
Mir war bereits, als wäre ich nach Hause gekommen. Wer nirgendwo zu Hause ist,
spürt das leicht.
II.
M ein Englisch verbesserte sich
rasch, und nach vierzehn Tagen hatte ich bereits die Kenntnisse eines
Fünfzehnjährigen. Ich saß morgens einige Stunden lang mit einer Grammatik im
roten Plüsch des Hotels Reuben herum und suchte nachmittags jede sich bietende
Gelegenheit zu englischer Konversation. Ich ging dabei ohne Scham und Scheu
vor. Als ich merkte, daß ich nach zehn Tagen, die ich mit Melikow verbracht
hatte, einen russischen Akzent bekam, wandte ich mich an Gäste und Angestellte
des Hotels. Ich bekam nacheinander einen deutschen, jüdischen, französischen
und zum Schluß, als ich ganz sicher glaubte, bei den Aufwartefrauen und
Stubenmädchen auf waschechte Amerikanerinnen gestoßen zu sein, einen schweren
Brooklyn-Akzent.
»Du mußt ein Verhältnis mit einer jungen
Amerikanerin anfangen«, sagte Melikow, mit dem ich mich inzwischen duzte.
»Aus Brooklyn?« fragte ich.
»Lieber aus Boston. Dort spricht man am
besten.«
»Warum nicht mit einer Lehrerin aus Boston?
Das wäre noch
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