E.M. Remarque
immer hungrig,
wenn man freigelassen wird. Gehen wir in die Apotheke essen.«
»In die Apotheke?«
»In einen Drugstore. Das ist eine der
Eigentümlichkeiten des Landes. Man kann dort Aspirin kaufen und essen.«
***
»Was haben Sie
tagsüber
im Museum getan, um nicht irrsinnig zu werden?« fragte Melikow.
Ich blickte die Reihe der Leute entlang,
die eilig an der langen Theke aßen und vor sich Reklameschilder und
Medizinflaschen hatten. »Was essen wir hier?« fragte ich zurück.
»Einen Hamburger. Neben Wiener Würstchen
die Hauptnahrung des Volkes. Steaks sind zu teuer für den einfachen Mann.«
»Ich wartete auf den Abend. Ich benutzte
natürlich jedes Mittel, um nicht immerfort an die Gefahr zu denken, in der ich
mich befand. Das hätte mich sehr schnell verrückt gemacht. Dafür aber hatte ich
schon etwas Training, ich war ja bereits einige Jahre unterwegs, eines davon
auf der Flucht in Deutschland. Ich vermied jeden Gedanken, irgend etwas falsch
gemacht zu haben. Reue zerfrißt die Seele gründlicher als Salzsäure – sie
ist etwas für ruhige Zeiten. Ich repetierte mein Französisch immer wieder und
gab mir selbst unzählige Nachhilfestunden. Dann begann ich, nachts in den Sälen
des Museums umherzustreichen und die Bilder zu betrachten und mir einzuprägen.
Bald kannte ich sie alle. Dann fing ich an, sie mir in meinem Gelaß im Dunkel des
Tages vorzustellen. Ich ging dabei systematisch vor, Bild für Bild, nicht
wahllos, und ich brauchte oft viele Tage für ein einzelnes Gemälde. Ich hatte
zwischendurch Verzweiflungsanfälle, aber ich begann immer wieder von neuem.
Hätte ich einfach die Bilder betrachtet, wäre die Verzweiflung viel häufiger
gekommen. Dadurch, daß ich eine Art Gedächtnisübung daraus machte, gab ich mir
eine Chance, mich zu verbessern. Ich rannte nicht mehr gegen eine Wand, ich
ging eine Treppe hinauf. Verstehen Sie das?«
»Sie blieben in Bewegung«, sagte Melikow.
»Und Sie hatten ein Ziel. Das schützte Sie.«
»Ich lebte einen Sommer lang mit Cézanne
und einigen Degas. Es waren natürlich Phantasie-Bilder und
Phantasie-Vergleiche. Aber es waren trotzdem Vergleiche, und dadurch wurden sie
eine Herausforderung. Ich memorierte die Farben und die Kompositionen, dabei
hatte ich die Farben doch nie am Tage gesehen. Es waren Mondschein-Cézannes und
Nacht-Degas, die ich in ihren Schattenwerten memorierte und verglich. In der
Bibliothek fand ich später Kunstbücher. Ich hockte mich unter die Fenstersimse
und studierte sie. Es war eine Gespensterwelt, aber es war eine Welt.«
»War das Museum nicht bewacht?«
»Nur am Tage. Abends wurde es
abgeschlossen. Das war mein Glück.«
»Und das Unglück des Mannes, der Ihnen das
Essen brachte.«
Ich blickte Melikow an. »Und das Unglück
des Mannes, der mich versteckt hatte«, erwiderte ich ruhig. Ich sah, daß er es
gut gemeint hatte; er wollte mir keine Rüge erteilen. Er sprach über Tatsachen,
weiter nichts.
»Sie können nicht anfangen, Ihren Unterhalt
als illegaler Tellerwäscher zu verdienen«, sagte er. »Das ist romantischer
Unfug und seit es Gewerkschaften gibt, auch vorbei. Wie lange können Sie leben,
ohne verhungern zu müssen?«
»Nicht lange. Was kostet diese Mahlzeit?«
»Eineinhalb Dollar. Alles ist hier seit dem
Krieg teurer geworden.«
»Krieg?« sagte ich. »Hier ist doch kein
Krieg!«
»Doch!« erwiderte Melikow. »Wieder einmal
zu Ihrem Glück. Man braucht Leute. Es gibt keine Arbeitslosen mehr. Sie werden
leichter etwas finden.«
»Ich muß in zwei Monaten hier wieder weg.«
Melikow lachte und schloß seine kleinen
Augen. »Amerika ist sehr groß. Und es ist Krieg. Wieder zu Ihrem Glück. Wo sind
Sie geboren?«
»Nach meinem Paß in
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