Emil
Fingern berührte er ihre Wangen.
Auf einmal öffneten sich ihre Lippen. Sie sagte etwas. Ein langgezogenes
Mooo
. Joel erstarrte. Dann schrie er auf. Alle blickten einander an. Der Polizist fuhr erschrocken zusammen. Der ältere Polizist trat näher an ihn heran.
Sie hat etwas gesagt, sagte er. Sie hat etwas gesagt, sie hat mich gerufen.
Der Arzt beugte sich über die Leiche, prüfte den Puls, befühlte die Halsschlagader. Schüttelte auf eine Frage des Polizisten den Kopf.
Lea! Lea!, rief Joel dicht an ihrem Ohr. Lea! Lea! Mach ein Zeichen, wenn du mich hörst. Sag noch einmal, was du mir gesagt hast, sag es noch einmal. Der Arzt legte ihm die Hand auf die Schulter, schüttelte sie mit Nachdruck. Er verspürte einen heftigen Schmerz, als ob man ihm die Schulter ausrenke. Er schrie, das tut weh, das tut weh. Doch der Arzt fuhr fort, immer stärker zu drücken und zu schütteln.
Im vierten Stock saß ein Dutzend palästinensische Anstreicher schweigend auf dem Betonboden. Die Tünche in den Eimern wurde allmählich hart. In der bewussten Wohnung lag das Werkzeug verstreut herum.
Vor dem Gebäude wurden die Türen des Rettungswagens zur Seite geklappt.
Die Stadt
Das Auge blickt dorthin, wo Sonne, Mond, die Stadt und alle Sterne waren, der Erdball, Venus, Mars und alle anderen. Und da ist nichts. Weder rechts noch links. Nichts. Alles verschwunden. Schwarze Leere. Es kann nicht sein, doch es ist so. Nichts. Zuerst hat die Sonne gebrannt wie ein im blauen Himmel umgestürzter Ofen. Dann hat sie sich ausgedehnt und alles verbrannt, was um sie herum war. Dann ist sie geschrumpft. In sich zusammengestürzt. Hat zu leuchten aufgehört. Und ohne Licht, ohne Wärme, ist nichts. Das Auge sucht, vergeblich. Die Hände suchen tastend, vielleicht ist da ein Lichtschalter oder ein Vorhang, der sich auftun wird, und alles, was war, wird mit einem Schlage wieder sein. Wie wenn man nachts aufwacht, der linke Arm gefühllos erstarrt, ein kalter, toter Gummischlauch. Mit der Rechten will man das erkaltete Fleisch berühren, doch auch der rechte Arm ist verschwunden. Man will schreien. Und schreit.
Emil – Joel
Es kamen andere Jahre. Die Musik verklang. Leichte Kinderjacken hingen Sommer und Winter im geschlossenen Schrank. Der Junge wuchs heran, hörte auf, Briefchen zu schreiben und Liebesbeweise zu zeichnen. Sommer, Winter und Herbst. Fast jedes Jahr mussten eine neue Jacke und neue Schuhe angeschafft werden. Mit sechzehn ging Emil zu einem Konzert der Waterboys, und als er wiederkam, hatte er eine Fahne. Ein Jahr später tauchte eine Freundin auf. Sie schlossen sich in seinem Zimmer ein, und ab und zu kam Emil heraus und strich im Haus umher wie ein Kater. Um sich zu essen zu holen. Um ein Hemd in die Waschmaschine zu werfen. Zu trinken. Auch die Freundin ließ sich ab und zu blicken. Einmal durchquerte sie im Slip das Wohnzimmer, und Joel durchfuhr ein Schauer, und er steckte seinen Kopf in das dicke Buch.
Zu ihr nach Hause ging er, wenn ihre Eltern nicht da waren. Verschwand für zwei, drei Tage. Dann saß Joel allein in der Küche, blickte auf die Bäume, die sich im Winde wiegten, oder sah den Nachbarn zu. Die ließen die Rollläden hinunter, wenn sie ihn bemerkten. Langsam verschloss sich die Welt um ihn herum. Je näher sein fünfzigster Geburtstag rückte, desto früher verließ er das Büro. Er hatte ein Gefühl von ›das war’s‹, von großer Erschöpfung, fast wie ein Zwang, wegzugehen, lange Stunden zu schlafen und nicht aufzuwachen.
Emil benötigte eine Bluttransfusion. Man untersuchte Joels Blut, und es erwies sich, dass es kein Problem gab. Sein Blut war kompatibel. So lagen sie beide auf benachbarten Betten, und in dünnen Schläuchen wanderte das Blut des einen zum anderen.
Nein. Nein. Man muss bei der Wahrheit bleiben, dachte er. Man untersuchte Joel, und es erwies sich, dass er nicht spenden konnte. Seltene Blutgruppe. AB. Da stand er vor der Oberschwester und flehte sie an, als hinge es von ihr ab. Sie zog sich verlegen zu den Regalen mit den Injektionsnadeln zurück. Alle Spender blickten ihn erstaunt an. Und alle Schläuche. Und die Reagenzgläser. Und alle Kekse, die man ihnen reichte, damit sie wieder zu Kräften kämen und nicht beim Aufstehen zusammenbrächen.
Und als Emil zwei, drei Monate später wieder gesund war, fragte ihn Joel besorgt, ob er wegfahren dürfe. Und Emil, noch immer geschwächt, setzte die Kopfhörer ab und sagte: Fahr nur, Papa, mach dir keine Umstände. Trotzdem
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