Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel
. Marchese Marinelli.
CLAUDIA . So ist es richtig. – Hören Sie doch, Herr Marchese. – Marinelli war – der Name Marinelli war – begleitet mit einer Verwünschung – Nein, dass ich den edeln Mann [52] nicht verleumde! – begleitet mit keiner Verwünschung – Die Verwünschung denk ich hinzu – Der Name Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen.
MARINELLI . Des sterbenden Grafen? Grafen Appiani? – Sie hören, gnädige Frau, was mir in Ihrer seltsamen Rede am meisten auffällt. – Des sterbenden Grafen? – Was Sie sonst sagen wollen, versteh ich nicht.
CLAUDIA
(bitter und langsam)
. Der Name Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen! – Verstehen Sie nun? – Ich verstand es erst auch nicht: obschon mit einem Tone gesprochen – mit einem Tone! – Ich höre ihn noch! Wo waren meine Sinne, dass sie diesen Ton nicht sogleich verstanden?
MARINELLI . Nun, gnädige Frau? – Ich war von jeher des Grafen Freund; sein vertrautester Freund. Also, wenn er mich noch im Sterben nannte –
CLAUDIA . Mit dem Tone? – Ich kann ihn nicht nachahmen; ich kann ihn nicht beschreiben: aber er enthielt alles! alles! – Was? Räuber wären es gewesen, die uns anfielen? – Mörder waren es; erkaufte Mörder! – Und Marinelli, Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen! Mit einem Tone!
MARINELLI . Mit einem Tone? – Ist es erhört, auf einen Ton, in einem Augenblicke des Schreckens vernommen, die Anklage eines rechtschaffnen Mannes zu gründen?
CLAUDIA . Ha, könnt ich ihn nur vor Gerichte stellen, diesen Ton! – Doch, weh mir! Ich vergesse darüber meine Tochter. – Wo ist sie? – Wie? auch tot? – Was konnte meine Tochter dafür, dass Appiani dein Feind war?
MARINELLI . Ich verzeihe der bangen Mutter. – Kommen Sie, gnädige Frau – Ihre Tochter ist hier; in einem von den nächsten Zimmern: und hat sich hoffentlich von ihrem Schrecken schon völlig erholt. Mit der zärtlichsten Sorgfalt ist der Prinz selbst um sie beschäftiget –
CLAUDIA . Wer? – Wer selbst?
MARINELLI . Der Prinz.
[53] CLAUDIA . Der Prinz? – Sagen Sie wirklich, der Prinz? – Unser Prinz?
MARINELLI . Welcher sonst?
CLAUDIA . Nun dann! – Ich unglückselige Mutter! – Und ihr Vater! ihr Vater! – Er wird den Tag ihrer Geburt verfluchen. Er wird mich verfluchen.
MARINELLI . Um des Himmels willen, gnädige Frau! Was fällt Ihnen nun ein?
CLAUDIA . Es ist klar! – Ist es nicht? – Heute im Tempel! vor den Augen der Allerreinesten! in der nähern Gegenwart des Ewigen! – begann das Bubenstück; da brach es aus!
(Gegen den Marinelli.)
Ha, Mörder! feiger, elender Mörder! Nicht tapfer genug, mit eigner Hand zu morden: aber nichtswürdig genug, zu Befriedigung eines fremden Kitzels zu morden! – morden zu lassen! – Abschaum aller Mörder! – Was ehrliche Mörder sind, werden dich unter sich nicht dulden! Dich! Dich! – Denn warum soll ich dir nicht alle meine Galle, allen meinen Geifer mit einem einzigen Worte ins Gesicht speien? – Dich! Dich Kuppler!
MARINELLI . Sie schwärmen, gute Frau. – Aber mäßigen Sie wenigstens Ihr wildes Geschrei, und bedenken Sie, wo Sie sind.
CLAUDIA . Wo ich bin? Bedenken, wo ich bin? – Was kümmert es die Löwin, der man die Jungen geraubet, in wessen Walde sie brüllet?
EMILIA
(innerhalb)
. Ha, meine Mutter! Ich höre meine Mutter!
CLAUDIA . Ihre Stimme? Das ist sie! Sie hat mich gehört; sie hat mich gehört. Und ich sollte nicht schreien? – Wo bist du, mein Kind? Ich komme, ich komme!
(Sie stürzt in das Zimmer, und Marinelli ihr nach.)
[54] Vierter Aufzug
Die Szene bleibt.
Erster Auftritt
DER PRINZ. MARINELLI .
DER PRINZ
(als aus dem Zimmer von Emilien kommend)
. Kommen Sie, Marinelli! Ich muss mich erholen – und muss Licht von Ihnen haben .
MARINELLI . O der mütterlichen Wut! Ha! ha! ha!
DER PRINZ . Sie lachen?
MARINELLI . Wenn Sie gesehen hätten, Prinz, wie toll sich hier, hier im Saale, die Mutter gebärdete – Sie hörten sie ja wohl schreien! – und wie zahm sie auf einmal ward, bei dem ersten Anblicke von Ihnen – – Ha! ha! – Das weiß ich ja wohl, dass keine Mutter einem Prinzen die Augen auskratzt, weil er ihre Tochter schön findet.
DER PRINZ . Sie sind ein schlechter Beobachter! – Die Tochter stürzte der Mutter ohnmächtig in die Arme. Darüber vergaß die Mutter ihre Wut: nicht über mir. Ihre Tochter schonte sie, nicht mich; wenn sie es nicht lauter, nicht deutlicher sagte, – was ich lieber selbst nicht
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