Emmas Story
haben bewirkt, dass er sich zu einem wirklichen Spezialisten im Finden von Mängeln entwickelt hat.
»Emma? Was ist los?«
Ich blicke noch einmal zum Haus hinüber und schließe dann mit einem Seufzer mein Auto auf.
»Keine Ahnung, Armin. Weiß nicht. Wahrscheinlich habe ich schlecht geschlafen.«
Er mustert mich. »Du siehst aber gut aus.«
»Ich sehe immer gut aus.« Das ist nicht gelogen. Ich sehe gut aus, wenn ich eine Nacht durchgemacht habe, wenn ich mich in Liebeskummer ergehe, wenn ich unter einer tropfenden Nase oder höllischen Kopfschmerzen leide. Niemand glaubt mir, wenn ich mal unpässlich bin. Schönheit kann ein echter Fluch sein.
Armin kennt mich so gut, dass sein adlerhaftes Spähen schon nach wenigen Sekunden zu einer Erkenntnis führt: »Du denkst immer noch, dass diese Bruchbude irgendwas Besonderes ist und du hier eventuell der Liebe deines Lebens begegnen könntest oder so was Ähnliches, stimmt’s?«
Ich hasse es, wenn er die Wahrheit in so unschöne Worte kleidet. Das hätte er doch auch anders sagen können. Freundlicher. Jedenfalls so, dass nicht der Eindruck entsteht, ich hätte nicht alle Latten am Zaun.
»Für einen schwulen Mann bist du unglaublich unsensibel«, brumme ich und sehe auf die Uhr. »Wir haben nicht mal mehr Zeit auf einen Kaffee. Also auf zu den Heteros!«
Während ich in meinen Wagen steige, wende, dabei auf Armin achten muss, der seinen Kombi stets kürzer einschätzt als er tatsächlich ist, spüre ich, dass das Haus meinen Blick magnetisch anzuziehen versucht.
Es ist, als würde ich gezwungen, noch mal genau hinzuschauen. Es noch einmal ganz ernsthaft von außen zu betrachten.
Aber Armin hat Recht, und mein merkwürdiges Gefühl ist wahrscheinlich reine Spinnerei. Daher wehre ich mich gegen den Zwang und starre stattdessen in die Wochenendausgabe des Cityanzeigers, der noch aufgeschlagen neben mir liegt.
Mein Blick wird gefangen genommen von der Wohnungsannonce, der wir gerade gefolgt sind.
Darunter befinden sich die Anzeigen, in denen Einsame oder Beziehungsfrustrierte oder Frisch-Zugezogene einen Ausgleich zu ihrem jeweiligen Defizit suchen. Es sind Menschen, die dort inserieren, denen etwas fehlt. Um auszudrücken, was genau ihnen fehlt, füllen sie die Zeilen mit unverfänglich wirkenden Freizeit-Schlagworten und Adjektiven, die sich, oberflächlich betrachtet, auf die von ihnen gesuchte Person beziehen, aber im Grunde ausdrücken, wie der Verfasser, die Verfasserin der Anzeige sich selbst einschätzt: nett, sympathisch, aufgeschlossen, sportlich, humorvoll, vielseitig interessiert, einfühlsam, spontan, unabhängig, piratinnenabenteuerundsandstrandversessen …
Ich stutze.
Piratinnenabenteuerundsandstrandversessen?
Rasch sehe ich auf. Armin holpert bereits in Zeitlupentempo den Schotterweg entlang zur Straße.
Ich schalte und folge ihm langsam.
Abenteuer. Sandstrand. Versessen.
Im Grunde nichts anderes als eine gut formulierte Wohnungsannonce. Eine Wohnung, für die jemand gesucht wird, der Sinn für das Ungewöhnliche hat, gern träumt, Träume gern lebt, gern Sand unter den nackten Zehen spürt und darauf so wild ist, dass er eine Anzeige in den spießigen Cityanzeiger setzt, um andere zu finden, denen es ähnlich geht.
Als wir am Ende des Weges – ich habe mich nicht nach dem gelben Haus umgeschaut! – kurz halten müssen, um ein paar Autos vorbeizulassen, überfliege ich die restlichen Zeilen der Annonce.
Piratinnenabenteuerundsandstrandversessene Sie (34) möchte mit Gleichgesinnten unter der Totenkopfflagge segeln und neues Land entdecken! Wer ist dabei?
Ich hebe den Kopf und blicke stumpf auf Armins Nummernschild.
Neues Land entdecken.
Wann habe ich das letzte Mal neues Land entdeckt?
Fraukes vertrautes Bild taucht vor meinen Augen auf.
Als sie durch meine Tage und meine Nächte geisterte, da war das völliges Neuland gewesen. Die intensiven Flirts. Das Geheimnisvolle und Rätselhafte. Ich hatte intensiv empfunden. Ich hatte intensiv gehofft und gewünscht.
Piratinnenabenteuer?
Das muss eine wortgewandte, erfindungsreiche Frau sein, die andere Menschen sucht, die auch so sind.
Ich wäre gern so. Deswegen lese ich viele Gedichte und kenne unendlich vielfältige Zitate. Und es wäre bestimmt schön, eine zu kennen, die in mir eine Gleichgesinnte sehen würde.
Nicht, dass ich an Affären interessiert wäre. Auch nicht an neuen, engen Freundschaften. Ich habe Armin, ich habe Hannelore. Im Grunde habe ich alles, was ich
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