Ende (German Edition)
Insekten dringen nicht bis nach unten, nur das vereinzelte Kreischen eines Raubvogels, der in schwindelerregender Höhe sein Nest gebaut hat. Noch weiter oben kreisen Geier, winzig aufgrund der Entfernung, zahlreich wie Schwalben, aber gelassener, majestätischer.
Ibáñez führt den Trupp an. Er kickt einen Stein von der Größe einer Orange in die Tiefe, der sekundenlang poltert, bevor er am trockenen Rand des Flussbetts aufschlägt. Hart hallt der Knall von den Felswänden wider.
Keiner sagt etwas: María nicht, die zwei Schritte hinter Ibáñez geht; Ginés nicht, der das Fahrrad weggeworfen hat – zu unhandlich für den engen Weg – und die Butangaslampe jetzt selber trägt; Amparo nicht, die schon mehrfach um eine Rast gebeten hat; und auch die anderen nicht, die im Gänsemarsch folgen, weil der enge Pfad ein Nebeneinandergehen nicht erlaubt. Alle schweigen, lassen den Kopf hängen, die bewundernden Ausrufe beim Eintritt in die Schlucht sind längst verstummt.
Das Majestätische der Felsen schüchtert sie jetzt eher ein. Sie wollen nur noch ins Freie gelangen, so schnell wie möglich, bevor die Sonne endgültig untergeht und sich die Dunkelheit der Tiefe mit dem grauen Schatten der Dämmerung vereint.
Das Ende des Trupps bildet Hugo. Maribel hat ihn darum gebeten. Nun blickt sie ständig nach hinten, obwohl sie gar nicht die Letzte der Reihe ist. Cova hat sich zurückfallen lassen, sie geht jetzt direkt vor Hugo. Sie vergewissert sich, dass niemand zu ihnen hersieht, und begibt sich – so gut es der schmale Weg zulässt – an seine Seite.
«Geh langsamer», wispert sie ihm ins Ohr, «ich will mit dir reden, ohne dass die anderen es mitkriegen.»
Hugo folgt ihrer Bitte. Instinktiv sieht sich Nieves um, als sie merkt, dass sich die Schritte der beiden entfernen. Aber als sie aus den Augenwinkeln erkennt, dass Cova und Hugo sich unterhalten, wendet sie den Blick sofort wieder nach vorn, passt sich dem Schritt der vor ihr gehenden Maribel an und schenkt den beiden Nachzüglern keine Beachtung mehr.
«Ich habe Angst», wimmert Cova, als sie sich sicher ist, dass keiner sie hört. «Alles ist so seltsam, so …»
Cova bringt den Satz nicht zu Ende, und Hugo nutzt ihr Zögern, um ihr brüsk ins Wort zu fallen.
«Glaubst du etwa, ich habe keine Angst?», schnauzt er sie an und zieht sie mit, damit der Abstand zu den anderen nicht noch größer wird als die bisherigen zehn Meter. «Wir haben alle Schiss, aber jetzt geht’s vor allem darum, so schnell wie möglich aus dieser Scheißschlucht rauszukommen, zurück in die Zivilisation.»
«Heute erreichen wir das Dorf bestimmt nicht mehr. Es wird ja schon dunkel.»
«Dein Pessimismus nervt», sagt Hugo unwirsch. «Pessimisten sind das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können.»
Cova kämpft mit den Tränen, das Schluchzen schnürt ihr die Kehle zu, lähmt ihren Gaumen, trübt ihre Augen, ihre Stimme hat etwas Krächzendes. «Das ist alles so seltsam, und du … Seit wir hier sind, seit du deine Freunde um dich hast, bin ich Luft für dich.»
«Jetzt mach mal halblang», antwortet Hugo etwas sanfter, aber ohne sie zu berühren, «ich habe sie eben lange nicht gesehen. Das ist doch normal. Durch sie fühle ich mich wieder jung.»
«Das meine ich nicht», insistiert Cova, deren Schluchzen jetzt eine gewisse Gereiztheit verrät. «Du bist so wie immer, nur schlimmer. Ich glaube, du bist einfach so und du warst schon immer so. Wir leben zwar unter einem Dach, aber ich habe das Gefühl, als wären wir gar kein Paar.»
«Jetzt fang nicht wieder damit an.» Hugo klingt wie jemand, der zum x-ten Mal einen kindischen Vorwurf hört und allmählich die Geduld verliert. «Was hat das mit unserem jetzigen Problem zu tun? Wir müssen so schnell wie möglich Somontano erreichen, das ist für mich im Moment das einzig Wichtige.»
«Ich glaube schon», sagt Cova und verstummt, blickt sich nervös um, «dass das eine mit dem anderen etwas zu tun hat.»
«Wie meinst du das?»
Hugo ist neugierig geworden, bleibt stehen. Doch dann drängt er Cova wieder vorwärts, damit sie nicht zu weit hinter die anderen zurückfallen.
«Ich glaube, dass wir genau deswegen hier sind», erklärt Cova und sucht Hugos Blick, «damit es zu Ende gehen kann. Alles geht zu Ende, unsere Ehe, wir selbst. Es ist das Ende, verstehst du? Das Ende von allem.»
«Red nicht so einen Quatsch! Und geh gefälligst etwas schneller.»
«Nein, es reicht! Ich kann nicht mehr!», ruft Cova und bleibt
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