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Ende (German Edition)

Ende (German Edition)

Titel: Ende (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Monteagudo
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inzwischen eins angebracht.»
    «Jetzt verstehe ich gar nichts mehr», mischt sich María ein. «Ich dachte, der Weg verläuft ganz unten.»
    «Unten? Da ist doch der Fluss», sagt Hugo.
    «Der vermutlich ausgetrocknet ist», meint Amparo.
    «Der Weg ist in die linke Felswand gehauen», erläutert Hugo, «und bis zum Fluss geht’s ganz schön weit runter. Richtig spektakulär ist das, deshalb kommen auch so viele Ausflügler her.»
    «Unsere Jungs hier hatten immer einen Heidenspaß, weil sie einen auf männlich machen konnten», erläutert Nieves María.
    «Und uns erschrecken», fügt Maribel hinzu.
    «Oder betatschen», ätzt Amparo.
    «Dich bestimmt nicht», kontert Hugo und sieht woandershin.
    Maribels Stimmung hellt sich auf, sie lächelt sogar. Aber dann verfällt sie schnell wieder ins Grübeln, als hätte eine Hand ihr das Lächeln aus dem Gesicht gewischt.
    «Der Prophet hatte immer Angst», sagt sie plötzlich wie in ihren Erinnerungen verloren. «Der Arme war nicht schwindelfrei.»
    «Das Fahrrad nehmen wir mit und basta», bestimmt Ginés ungehalten. «Wenn wir später feststellen, dass es nur eine Last ist, lassen wir es einfach liegen. Und jetzt müssen wir los, wir haben schon genug Zeit vergeudet.»
    Alle stehen auf, gehen zur Eingangstür oder suchen ihre Sachen zusammen. Niemand ist auf Maribels Bemerkung eingegangen, es ist so, als hätte sie sie gar nicht gemacht. Von draußen ertönt Ginés’ Stimme: «Geht nicht auf die Toilette. Wir wollen den Leuten keine Sauerei hinterlassen. Wenn wir mal müssen, schlagen wir uns einfach in die Büsche. Aber Klopapier können wir gut gebrauchen, nehmt mit, so viel ihr könnt.»

D er Weg führt durch eine tiefe Schlucht, die der Fluss in den Fels gegraben hat, Wasser, das vor Millionen von Jahren gemächlich die sechzig oder siebzig Meter höhere Ebene durchflossen hat. Die Schlucht ist vier Kilometer lang und überraschend regelmäßig, rund zwanzig Meter breit, mit senkrecht aufragenden Felswänden.
    Ein richtiger Cañon ist sie nicht, dafür müsste der Fluss reißender, sein Verlauf gewundener, labyrinthischer sein. Durch die symmetrische Abfolge von Windungen ist sie eher eine Klamm denn eine Schlucht.
    Die blinde, aber beharrliche Natur hat diese atemberaubende Schneise in die Landschaft gefurcht, während der Mensch lediglich einen bescheidenen Beitrag geleistet hat, indem er auf konstanter Höhe eine Linie in den Felsen gezogen und so einen Weg geschaffen hat wie ein Wurm in einem Terrarium, der sich nicht um die Glaswand kümmert, die sein Werk bloßlegt.
    Die Arbeit des Menschen: zwei Jahre eifriges, eitles Tun, genau verortbar in der Zeit: vor sechs Jahrzehnten. Das Geländer am Wegrand wirkt noch fragiler, noch jünger: ein dünner, feiner, fast unsichtbarer Faden wie von einem Spinnennetz, der jederzeit zu reißen droht.
    Die Sonne ist noch nicht da, hat ihren Weg vom Zenit zur Dämmerung erst halb durchlaufen. Die Freunde gehen im Schatten, müssen auf die Wärme der Sonne und auf ihre Kraft, die den Felsen, der Erde, den Büschen und Sträuchern Leben einhaucht, verzichten. Die linke Wand, in die der Weg gehauen ist, zeigt gen Westen und erhält erst am Nachmittag Licht und auch dann nur einen dünnen Streifen im oberen Drittel. Der Weg selbst, der näher zum Flussbett hin liegt als zur Felskante, bleibt immer im Schatten. Nicht einmal sehen können die Freunde den Streifen weit über ihren Köpfen, weil das Geländer und die Vernunft verhindern, dass sie sich weit genug hinauslehnen. Was sie sehen, ist die gegenüberliegende Wand, und die ist grau. Von der Sonne erkennen sie nur einen Lichtkranz, eine unschuldige Glut, das Verschmelzen des oberen Felsrands mit dem entflammten Flaum der Vegetation.
    Unten, im ausgetrockneten Flussbett, häufen sich runde Steine verschiedener Größe, manche davon sind riesig; dazwischen wirre Bündel modriger Äste, die das letzte Anschwellen des Flusses dorthin gespült hat; der weiße, harmlose Fleck eines Kanisters, einer Plastiktüte. Und noch tiefer, versteckt hinter aufgeschwemmtem Sand, das Wasser: stockend, spärlich, unbedeutend.
    Die Luft ist trocken, die Sicht gut. Wenn man nach oben blickt, zeichnet sich zwischen den Felswänden – wie ein viel saubererer und wasserreicherer Fluss – ein hellblauer, lichter, außergewöhnlich reiner Himmel ab. Eine laue Brise weht durch den Tunnel, den die Schlucht bildet. Es herrscht eine unheimliche Stille. Das Zirpen der Zikaden und das Brummen der

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