Enders Schatten
»Du hast uns Angst gemacht. Sie sagten, du wärst verrückt geworden, und wir sagten, sie wären verrückt geworden.«
»Ich bin verrückt«, entgegnete Ender. »Aber ich glaube, ich bin okay.«
Es gab noch mehr Neckereien, dann wurde Ender von Gefühlen überwältigt, und zum ersten Mal sahen sie ihn weinen. Bean stand zufällig neben ihm, und als Ender die Arme ausstreckte, waren es Bean und Petra, an die er sich klammerte.
Die Berührung seiner Hand, die Umarmung, waren mehr, als Bean ertragen konnte. Er weinte ebenfalls.
»Ihr habt mir gefehlt«, sagte Ender. »Ich wollte euch unbedingt sehen.«
»Ich dachte, du hättest nach dieser Vorstellung genug von uns«, meinte Petra. Sie weinte nicht. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Ihr wart groÃartig«, sagte Ender. »Und die, die ich am meisten gebraucht habe, habe ich am schnellsten aufgebraucht. Schlechte Planung meinerseits.«
»Es geht uns allen wieder gut«, stellte Dink fest. »Du glaubst nicht, wie erholsam fünf Tage in einem dunklen Zimmer mitten in einem Krieg sein können.«
»Ich brauche doch nicht mehr euer Kommandant zu sein, oder?«, fragte Ender. »Ich will nie wieder jemandem Befehle erteilen.«
Bean glaubte ihm, und er glaubte auch, dass Ender nie wieder das Kommando bei einem Kampf führen würde. Er hatte vielleicht noch die Talente, die ihn an diesen Ort gebracht hatten, aber er musste sie nicht mehr zur Ausübung von Gewalt einsetzen. Falls es überhaupt so etwas wie Wohlwollen in diesem Universum gab, oder auch nur schlichte Gerechtigkeit, würde Ender nie wieder töten müssen. Er hatte sein Soll bereits erfüllt.
»Du brauchst nicht mehr zu kommandieren«, sagte Dink. »Aber du wirst immer unser Kommandant sein.«
Bean spürte, wie wahr das war. Es gab keinen hier, der Ender nicht weiter in seinem Herzen tragen würde, wohin sie auch gehen, was immer sie tun mochten.
Bean konnte sich nicht dazu durchringen, ihnen zu sagen, dass auf der Erde beide Seiten darauf bestanden hatten, den Helden des Krieges, den jungen Ender Wiggin, in ihre Obhut zu nehmen. Wer immer ihn für sich vereinnahmen konnte, würde nicht nur seinen hervorragenden militärischen Geist nutzen können â dachten sie â , sondern auch den Nutzen aus der Publicity und der öffentlichen Schmeichelei ziehen, die ihn umgab und bei jeder Erwähnung seines Namens noch intensiver wurde.
Also einigten sich die politischen Anführer, während sie an ihrem Waffenstillstand arbeiteten, auf einen schlichten und offensichtlichen Kompromiss. Alle Kinder aus der Kampfschule würden zurückgeschickt werden. Alle bis auf Ender Wiggin.
Ender Wiggin würde nicht nach Hause kommen. Keine Gruppierung auf der Erde sollte imstande sein, ihn für sich zu vereinnahmen. So lautete der Kompromiss.
Und das war von Locke vorgeschlagen worden, von Enders eigenem Bruder.
Als er das erfuhr, hatte Bean innerlich gekocht wie damals, als er geglaubt hatte, dass Petra Ender verraten hätte. Es war falsch. Es war unerträglich.
Vielleicht hatte Peter Wiggin diesen Vorschlag gemacht, um Ender davor zu bewahren, zu einer Spielfigur zu werden. Um ihm Freiheit zu geben. Oder vielleicht tat er es, damit Ender seine Berühmtheit nicht nutzen konnte, um selbst politische Macht zu erlangen. Rettete Peter Wiggin seinen Bruder oder eliminierte er einen Rivalen um die Macht?
Eines Tages werde ich ihn kennen lernen und es herausfinden, dachte Bean. Und wenn er seinen Bruder verraten hat, werde ich ihn vernichten.
Als Bean in Enders Zimmer weinte, weinte er aus einem Grund, von dem die anderen noch nichts wussten. Er weinte, weil Ender ebenso wie die Soldaten, die in den Schiffen gestorben waren, nicht aus dem Krieg nach Hause kommen würde.
»Also«, brach Alai das Schweigen, »was machen wir jetzt? Der Schabenkrieg ist vorbei, ebenso wie der Krieg auf der Erde und selbst der Krieg hier oben. Was wird jetzt aus uns?«
»Wir sind Kinder«, sagte Petra. »Wahrscheinlich müssen wir zur Schule gehen. Das ist Gesetz. Man muss zur Schule gehen, bis man siebzehn ist.«
Alle lachten, bis sie wieder weinen mussten.
Im Lauf der nächsten paar Tage sahen sie einander hin und wieder. Dann gingen sie an Bord unterschiedlicher Kreuzer und Zerstörer, um zur Erde zurückzukehren. Bean wusste genau, warum sie in unterschiedlichen Schiffen
Weitere Kostenlose Bücher