Enders Schatten
Bean faszinierte. Das ist ein Trupp, dachte er. Und er zieht in den Kampf.
Sie waren allerdings nicht so konzentriert, dass sie die Neuen nicht bemerkt hätten, die den Flur entlanggingen und sie ehrfürchtig anstarrten. Sofort gab es schrille Pfiffe und Rufe: »Frischlinge! Frischfleisch!« »Die machen Kaka im Flur und putzen es nicht weg!« »Sie riechen sogar dumm!« Aber das waren alles harmlose Neckereien, Ãltere, die ihre Ãberlegenheit bekundeten. Es hatte nichts weiter zu bedeuten. Keine wirkliche Feindseligkeit. Tatsächlich wirkte es beinahe liebevoll. Sie erinnerten sich daran, selbst einmal Frischlinge gewesen zu sein.
Ein paar Kids vor Bean in der Schlange ärgerten sich trotzdem und antworteten mit ein paar vagen, jämmerlichen Beleidigungen, was nur noch mehr Pfiffe und Hohn von den Ãlteren hervorrief. Bean hatte ältere, gröÃere Kinder erlebt, die jüngere hassten, weil sie Konkurrenz ums Essen waren, und sie vertrieben, und es war ihnen egal gewesen, ob die Kleinen starben. Er hatte echte Schläge gespürt, die wehtun sollten. Er hatte Grausamkeit, Ausbeutung, Missbrauch und Mord erlebt. Diese verwöhnten Kinder hier erkannten nicht einmal, wie liebevoll diese Neckereien in Wirklichkeit waren.
Bean hätte gern gewusst, wie der Trupp organisiert war, wer ihn anführte, wie er gewählt wurde und wozu ein solcher Trupp diente. Da sie eigene Uniformen hatten, handelte es sich wohl um etwas Offizielles. Also hatten hier wohl letztlich die Erwachsenen das Sagen â im Gegensatz zu den Banden in Rotterdam, die von den Erwachsenen immer nur feindselig und von Journalisten nicht als erbärmliche kleine Bündnisse mit dem alleinigen Ziel des Ãberlebens betrachtet wurden, sondern als kriminelle Verschwörungen.
Und das war wirklich der Schlüssel. Alles, was die Kinder hier taten, wurde von Erwachsenen vorgegeben. In Rotterdam waren Erwachsene entweder feindselig und gleichgültig oder, wie Helga mit ihrer Suppenküche, letztes Endes machtlos. Also konnten die Kinder ungestört ihre eigene Gesellschaft bilden. Es ging bei allem ums Ãberleben â darum, sich genug Nahrung zu verschaffen, ohne umgebracht, verletzt oder krank zu werden. Hier in der Kampfschule gab es Köche und Ãrzte, Kleidung und Betten. Macht bedeutete nicht Zugang zu Nahrung â es bedeutete, die Anerkennung der Erwachsenen zu erlangen.
Das war es, wofür diese Uniformen standen. Erwachsene suchten sie aus, und Kinder trugen sie, weil die Erwachsenen sie irgendwie dafür belohnten.
Also lag der Schlüssel zu allem darin, die Lehrer zu verstehen.
All das ging Bean nicht unbedingt in Worten durch den Kopf, vielmehr stand ihm mit einem klaren und beinahe sofortigen Verständnis vor Augen, dass es in diesem Trupp keinen Befehlshaber gab, der es an Macht mit den Lehrern aufnehmen konnte, und das wusste er, noch bevor die uniformierten Johler ihn erreicht hatten.
Als sie Bean sahen, der so viel kleiner war als die anderen Kinder, brachen sie in Gelächter, Geheul und Grölen aus. »Der ist ja nicht mal so groà wie eine Kackwurst.« »Ich kann nicht glauben, dass er schon laufen kann!« »Wo ist deine Mama, Kleiner?« »Ist das überhaupt ein Mensch? «
Bean blendete sie sofort aus, aber er spürte, wie die Kinder vor ihm in der Schlange sich freuten. Sie waren im Shuttle gedemütigt worden â nun war es an Bean, verspottet zu werden. Sie liebten es. Und Bean freute sich ebenfalls â es bedeutete, dass man ihn weniger als Rivalen betrachtete. Indem sie ihn herabsetzten, hatten die vorbeieilenden Soldaten dafür gesorgt, dass er viel sicherer war â¦
Wovor? Worin bestand hier die Gefahr?
Es lauerte eine Gefahr. Das wusste er. Es lauerten immer Gefahren. Und da die Lehrer alle Macht hatten, würde die Gefahr von ihnen ausgehen. Dimak hatte mit alledem angefangen, als er die anderen Kinder gegen ihn aufhetzte. Also waren die Kinder selbst die erklärte Waffe. Bean musste die anderen Kinder kennen lernen, nicht, weil sie an sich ein Problem sein würden, sondern weil ihre Schwächen und ihre Bedürfnisse von den Lehrern gegen ihn ausgenutzt werden konnten. Und um sich zu schützen, musste er daran arbeiten, den Zugriff der Lehrer auf die anderen Kinder zu untergraben. Die einzige Sicherheit hier bestand darin, den Einfluss der Lehrer zu unterminieren, und dabei erwischt zu werden, stellte die
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